Undzer shtetl brent», schallt es durch den Festsaal des Ariowitsch-Hauses zu Leipzig, «Shteyt nit, brider, lesht dos fayer, undzer shtetl brent!» Rund 150 vor allem ältere Menschen sitzen mit gesenkten Köpfen an langen, weiß gedeckten Tafeln und lauschen dem klagenden Gesang. Neben der Sängerin auf der Bühne stehen rechts und links Aufsteller, auf denen zu lesen ist, was heute hier gefeiert wird: «Tag der Befreiung und Errettung des jüdischen Volkes aus den Klauen der Nazis».
Für die allermeisten bedeutet das Datum rund um den 9. Mai auch: «Tag des Sieges». Sie stammen aus den ehemaligen Sowjetrepubliken. Einige von ihnen gehörten der Roten Armee an. Ihnen gilt heute besondere Ehre, darauf verweist auch Gemeinderabbiner Zsolt Balla in seiner kurzen Begrüßungsrede: «Der Krieg gegen das Böse ist ein Imperativ» und «Sie haben gegen das Böse gekämpft». Denn nicht der Krieg selbst sei böse, er sei die Folge des Bösen. «Wir brauchen Sie, um uns zu leiten, was gut ist», fährt Balla – an die Veteranen gerichtet – fort, «und was es bedeutet, gegen das Böse zu kämpfen.»
Lieder Die Stimmung hellt sich an diesem Nachmittag aber schnell auf, und die Lieder werden fröhlicher, schließlich gilt es ja, das Ende des Krieges zu feiern. Ein Ende, an das sich Efim Replyanskiy noch gut erinnern kann. Der heute 93-Jährige diente damals als Soldat in einem Forschungslabor in Moskau, erzählt er, während er vor dem Ariowitsch-Haus in der Sonne steht und raucht. Jedes Mal, wenn sich die Tür öffnet, schwappt Musik nach draußen.
«Als die Nachricht kam, sind alle nach draußen gelaufen, wildfremde Menschen haben sich umarmt und geküsst», erzählt er. Später habe er mitgeholfen, Stalins große Siegesparade zu organisieren. Er hat aber auch schmerzhafte Erinnerungen an den Krieg, berichtet Replyanskiy.
Als 16-Jähriger kam er 1941 zur Armee und sollte nach einer kurzen Ausbildung an die Front ziehen. Kurz vor dem Abmarsch wurden er und fünf weitere junge Männer aus dem Trupp herausgezogen. Man fand, der junge Mann, der sich schon intensiv mit Chemie beschäftigte, sollte sich besser mit der Erforschung von Giftstoffen befassen, als an der Front zu kämpfen.
Die Kompanie zog ohne ihn weiter und wurde bombardiert – niemand überlebte. «Das Bewusstsein, dass alle meine Kameraden tot sind, das war der schrecklichste Moment des Krieges», erinnert er sich. Der Krieg hat ihn auch in seinem späteren Leben als Dokumentarfilmer immer wieder beschäftigt – aktuell bereitet er ein Projekt vor, das vom Leid auf beiden Seiten der Frontlinie erzählen will.
Sibirien Zosim Kreynis, heute ein fröhlicher, etwas rundlicher älterer Herr, hat die ersten Jahre des Krieges als kleiner Junge mit seiner Mutter und seiner Schwester in Sibirien überlebt. Als sie 1943 in das heimatliche Orjol zurückkehrten, fanden sie die Stadt nahezu komplett zerstört. Dort erlebte er mit elf Jahren auch den Tag des Sieges. «Aber ich kann nicht sagen, dass wir gefeiert haben», erzählt er. Der Krieg und seine Folgen waren noch so präsent und das Leben so schwer. Natürlich hätten im ersten Moment alle getanzt, sagt er, «aber es haben sich alle gefragt, was man morgen zu essen haben würde».
Die Deutschen sind ihm aber nicht als Feinde, sondern als Kriegsgefangene begegnet, berichtet der emeritierte Professor der Ingenieurswissenschaften. Zwei alte Männer seien abgestellt gewesen, die Familie beim Wiederaufbau ihres Hauses zu unterstützen. «Eigentlich war es verboten, ihnen Essen zu geben», erinnert er sich, «aber meine Mutter hat Kartoffeln gekocht und sie ihnen zugesteckt.» Einer der Deutschen habe ihm sogar eine Mundharmonika geschenkt.
Stalingrad Im Saal geht derweil das Programm weiter. Die Tanzgruppe der Gemeinde hat ein paar Tänze einstudiert, der Chor der Gemeinde singt, und auch Naomi Balla, die Tochter des Rabbiners, trägt etwas vor. Ganz in der Nähe der Bühne sitzt Liobov Nasper und genießt gut gelaunt das Programm. Erst als die Veranstaltung zu Ende ist und die Besucher den Saal verlassen haben, erzählt sie, wie sie den Krieg erlebt hat. Denn sie und ihre Mutter waren unter den rund 75.000 Zivilisten, die in Stalingrad geblieben sind, als die Deutschen kamen.
An den Verlauf der Schlacht kann sie sich nicht erinnern, sagt sie, dazu war sie zu klein. An den nahen Geschützdonner aber sehr wohl, und dass viel Radio gehört wurde. Was sie aber noch ganz genau weiß, ist, welcher Mangel geherrscht hat. «Es gab keine Heizung, kein Wasser, kein Essen, kein Licht, nichts», sagt sie. Ihr Bett hatten ihre Mutter und sie in die Küche gestellt, wo es manchmal ein bisschen wärmer war. Und: «Oft haben wir Gras gesammelt und gekocht – etwas anderes gab es nicht zu essen.»
kriegsende Wann sich das Blatt wendete, daran kann sie sich nicht erinnern. Die Nachrichten im Radio wurden zwar besser, aber lange habe sie nicht gewusst, was da passiert – bis endlich die erlösende Nachricht vom Ende des Krieges kam. Besonders gut erinnert sie sich an die Rückkehr der Soldaten. «Es war Frühling, überall blühte der Flieder. Wir schwänzten die Schule und warfen Blumen auf die vorbeifahrenden Panzer», sagt sie und lächelt. Heute, 73 Jahre nach Kriegsende, lebt sie gerne in Deutschland.
Trotz ihrer großen Verluste ist bei keinem der drei Überlebenden Bitterkeit oder Hass zu spüren. Im Gegenteil, sie betonen, dass sie froh und dankbar sind, hier in Leipzig zu sein. «Man muss nach vorne schauen», sagt Liobov Nasper. Dann geht sie hinaus, in den warmen Leipziger Frühlingsnachmittag, wo der Flieder blüht.