Bis vor vier Jahren war ich Taxifahrer. Ich habe erst mit 76 Jahren aufgehört zu arbeiten. 20 Jahre lang bin ich mit dem Taxi durch Freiburg gefahren, habe ständig neue Leute getroffen und viele Gespräche geführt. Das war spannend. Und ganz nebenbei habe ich gut Deutsch gelernt.
Ich war 54 Jahre alt, als ich 1992 mit meiner Frau und unseren zwei Kindern aus der Ukraine nach Freiburg gekommen bin. Zuerst wollten wir nach Israel auswandern, doch nach dem Golfkrieg war uns die Situation dort zu gefährlich. Angst und Lebensgefahr kenne ich aus meiner Kindheit: Ich wurde 1938 geboren und lebte während des Zweiten Weltkriegs im Ghetto in Balta, in der Nähe von Odessa.Einen meiner drei Enkel sehe ich oft. Er wohnt in Freiburg, so wie ich. Er ist zehn Jahre alt, und ich hole ihn an vielen Tagen von seinem Gymnasium ab oder fahre ihn zum Gitarrenunterricht. Es war meine Idee, dass er Gitarrespielen lernt.
Für mich war Musik immer wichtig. Mit 14 Jahren habe ich mit dem Geigespielen begonnen. Viel später, während meines Militärdiensts in der Ukraine, war ich Mitglied im Blasorchester der Armee. Wir mussten mit den Instrumenten marschieren, so wie es in der Armee üblich ist. Aber immerhin mussten wir nicht schießen.
Als ich vier Jahre alt war,
versteckte mich meine
Mutter im Ghetto unterm Bett.
1957 war ich fast ein Jahr lang mit dem Militärorchester in Ostdeutschland stationiert, in der Nähe von Cottbus. Wir haben fast nichts von unserer Umgebung gesehen, wir durften nur mit Begleitung unterwegs sein.
berufsleben Nach der Schule hatte ich zuerst eine Ausbildung zum Gussformengießer gemacht. Aber die Arbeitsbedingungen waren zu hart. Nachdem ich aus dem Militärdienst ausgeschieden war, kehrte ich wieder nach Odessa zurück. Dort absolvierte ich vier Jahre lang abends eine Ausbildung zum Chordirigenten. Tagsüber musste ich Geld verdienen und habe daher in sehr unterschiedlichen Bereichen gearbeitet: Ich verlieh Boote und erledigte alle möglichen Gelegenheitsjobs.
Vor allem aber bin ich als Musiker aufgetreten, zum Beispiel in Restaurants oder auf Ausflugsschiffen. Meistens habe ich Gitarre gespielt, manchmal auch gesungen. Obwohl ich bis zu meinem 76. Lebensjahr immer gearbeitet habe, bekomme ich jetzt im Alter nur eine kleine Rente – und brauche deshalb Grundsicherung zum Überleben. Für die Rente angerechnet werden mir nur die 20 Jahre, die ich in Deutschland gearbeitet habe, nicht aber die mehr als drei Jahrzehnte zuvor in der Ukraine.
typhus Als kleines Kind habe ich im Ghetto in Balta gelebt. Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, musste mein Vater als Soldat an die Front ziehen. Meine Mutter hat mit mir, meinen Großeltern und meinem Onkel versucht, in einer Kutsche zu fliehen. Doch die Deutschen waren schon zu weit vorgerückt und kamen uns bald entgegen. Wir mussten wieder zurückkehren, ins Ghetto, das zu dieser Zeit eingerichtet wurde.
Dort lebten ungefähr 2800 Juden, die meisten waren Einheimische aus der Umgebung, manche kamen auch aus Moldawien oder Bessarabien. Wir standen unter rumänischer Kontrolle. Das war unser Glück, denn unter den Rumänen konnte man eher überleben.
Weil ich sehr klein war, habe ich nicht viele Erinnerungen an diese Zeit. Ich weiß aber noch, wie meine Mutter mir eines Tages schnell ein Halstuch umband und mich ins Bett legte. Dann kam ein deutscher Offizier herein. Sie sagte ihm, ich hätte Typhus. Er hatte Angst, sich anzustecken, und ist schnell wieder gegangen. Wahrscheinlich hat uns das gerettet.
Meine Mutter sagte dem deutschen Offizier, ich hätte Typhus. Er hatte Angst, sich anzustecken und ist schnell wieder gegangen.
Ein anderes Mal, als ich vielleicht vier Jahre alt war, hat mich meine Mutter unter dem Bett versteckt und musste mit deutschen Soldaten nach draußen gehen. Sie verfolgten sie und schossen auf sie, dann ist meine Mutter in einen Schützengraben gefallen. Sie war zum Glück unverletzt, doch das wussten die Soldaten nicht. Sie dachten, meine Mutter sei tot, und ließen sie im Graben liegen. Später kam sie zu mir zurück und holte mich aus meinem Versteck.
kriegsende Dann weiß ich noch, wie wir im April 1944, als der Krieg in unserem Gebiet zu Ende ging, im Dachgeschoss saßen und Ausschau hielten nach den Russen. Irgendwann sah ich einen Mann auf einem Pferd, wahrscheinlich war er ein Partisan. Das erzählte ich schnell den anderen. Es sprach sich schnell herum: Nun waren wir endlich frei.
Als wir im Mai 1945 das Ende des Krieges und unseren Sieg feierten, waren alle Menschen auf den Straßen auf den Beinen. Es war unglaublich viel los – überall wurde vor Freude getanzt und gefeiert. Doch nach dem Krieg gab es eine schlimme Hungersnot, ganz besonders spitzte sich das im Jahr 1946 zu.
In diesem Jahr begann ich, zur Schule zu gehen. Mein Urgroßvater war Schuster, und weil alle Leute Sohlen und Schuhe brauchten, kam er leichter als andere an Lebensmittel heran.
familie Mein Vater kehrte im Herbst 1945, ein halbes Jahr nach dem Sieg über Nazideutschland, von der Front zurück. Er erzählte fast nichts von dem, was er erlebt hatte. Er war Elektrotechniker und wurde Direktor eines Elektrizitätswerkes.
Diese Stelle hat er bald verloren, weil damals alle Juden als sogenannte Kosmopoliten eingestuft und benachteiligt wurden. Dass er Kommunist war, nutzte ihm nichts. Aber er fand wieder eine andere Arbeit. Danach haben wir zwar immer wieder antisemitische Stimmungen gespürt, sie waren aber nicht gegen uns persönlich gerichtet.
1974 habe ich meine Frau kennengelernt. 1978 wurde unsere Tochter geboren, die heute wie meine Frau und ich mit unserem Enkel in Freiburg lebt. 1983 folgte unser Sohn, der inzwischen mit seiner Frau und unseren anderen beiden Enkeln im Alter von sechs Monaten und zwei Jahren in Bulgarien als Webdesigner arbeitet.
Als unsere Familie noch
in Odessa lebte, wohnten wir
zu viert in einem Zimmer.
In Odessa waren ungefähr 16 Prozent der Bevölkerung Juden, es gab auch Russen, Georgier, Aserbeidschaner und andere. Ich hatte immer das Gefühl, dass wir gleichberechtigt zusammenlebten. Als unsere Familie noch in Odessa lebte, wohnten wir zu viert in einem Zimmer.
Im April 1992 kamen wir als jüdische Kontingentflüchtlinge in Freiburg an und wurden vom damaligen Oberbürgermeister Rolf Böhme begrüßt. Wir gehörten zu den ersten Juden, die nach langer Zeit wieder in Deutschland leben wollten. Meine Frau war anfangs strikt dagegen, dass wir die Ukraine verlassen. Sie schimpfte und sagte zu mir: »Du nimmst mich mit, ohne mich zu fragen – als ob ich ein Koffer wäre.«
Wir waren zuerst in Esslingen und Weil am Rhein in Auffanglagern untergebracht. Doch der Lehrer Klaus Teschemacher, der sich damals zusammen mit seiner Frau sehr für jüdisches Leben engagierte und 1995 die Emmendinger Gemeinde wiedergründete, half uns dabei, nach Freiburg zu kommen.
gemeinde Damals blühte die jüdische Gemeinde in Freiburg langsam auf. Zusammen mit anderen Musikern aus der Gemeinde habe ich eine Musikgruppe namens »Schalom« gegründet – wir haben Konzerte gegeben, sogar fürs Radio. Nach einigen Jahren hatten wir aber alle Arbeit gefunden und keine Zeit mehr für so viel Musik. So war das auch bei mir.
1995 begann ich mit dem Taxifahren. Später habe ich den Chor der Jüdischen Gemeinde in Freiburg geleitet. Inzwischen trete ich nur noch bei Festen und Veranstaltungen mit meiner Gitarre auf. Beim Deutschlernen hat mir das Taxifahren sehr geholfen: Ich musste viel mit den Leuten sprechen. Und meine Fahrgäste haben meine Fehler verbessert.
Doch ich habe mich auch schon davor in der ersten Zeit in Deutschland sehr um die Sprache bemüht. So habe ich etwa viele Bücher auf Deutsch gelesen. Anfangs war das eine Quälerei. Inzwischen lese ich auch wieder russische Bücher. Außerdem verbringe ich viel Zeit im Internet – ich informiere mich über die Nachrichtenlage auf der Welt und skype mit Freunden in Israel oder den USA.
Inzwischen ist auch meine Frau sehr froh darüber, dass wir damals aufgebrochen sind. Alle haben uns darum beneidet, dass wir gehen konnten, denn in den 80er-Jahren gab es in allen Geschäften in der Ukraine nur noch leere Regale und eine sehr hohe Inflation. Und Freiburg ist nun schon seit vielen Jahrzehnten unser Zuhause.
Aufgezeichnet von Anja Bochtler