Zusammenstehen, zusammen feiern. Dass diese Losung des Gemeindetages vom Zentralrat der Juden am verangenen Wochenende in Hamburg gleich auf die Probe gestellt würde, hat Zentralratspräsident Dieter Graumann sicherlich nicht gedacht.
Fand doch in Wandsbek die größte Demonstration rechter nationalsozialistischer Gruppen in Deutschland in diesem Jahr statt. Zum Gegenprotest versammelten sich allein vor dem Hamburger Rathaus rund 10.000 Menschen und forderten ein buntes statt braunes Hamburg.
Auch viele Teilnehmer des Gemeindetages entschieden sich nach dem Schacharit zu einem Spaziergang zum Rathausvorplatz, um zu zeigen: Wir sind da und lassen uns nicht einschüchtern. Dass Graumann trotz Schabbat ans Mikrofon trat, empfanden viele jüdische Zuhörer absolut in Ordnung. »Eine tolle und wichtige Rede«, sagte Pedro Becerra, Gemeindevorsitzender in Delmenhorst. Auch der Vorstandsvorsitzende der ZWST, Abraham Lehrer und das Präsidiumsmitglied Vera Szackamer pflichteten ihm bei: »gut und richtig«.
Programm Vereint aber waren die rund 240 Teilnehmer des ersten Gemeindetages nach acht Jahren auch im Feiern, Diskutieren, in Gesprächen und gemeinsamen Erlebnissen. Begonnen hatte es schon am Freitagnachmittag mit ersten Ausflügen in die Innenstadt Hamburgs auf jüdischen Spuren oder einem Rundgang über den Friedhof in Altona, den Michael Halevy mit großer Verve vorstellte und erklärte, warum dieser in die Liste des Weltkulturerbes der UNESCO aufgenommen werden müsse.
Festlich gekleidet traf man sich am Abend wieder, um gemeinsam zum Kabbalat Schabbat in die Synagoge Hohe Weide zu fahren. Landesrabbiner Shlomo Bistritzky hielt den Gottesdienst stimmgewaltig, unterstützt von der New Yorker A-capella-Gruppe Six13, mit viel Schwung ab. Am Samstagmorgen hatten die Beter dann die Wahl zwischen einem liberalen und einem orthodoxen Schacharit. Beide waren sehr gut besucht. Immer wieder schallten die Gesänge aus den benachbarten Räumen hinüber und herüber. Auch hier entstand das Wir-Gefühl, das Zentralratspräsident Graumann sich für dieses Event erhoffte.
Eine neue Gemeinschaft gelte es jetzt aufzubauen, mit frischem Wind, Herz und positivem »Spirit«, würde er am nächs- ten Tag in einer kurzen Grundsatzrede sagen. Am Samstag legten die Workshopteilnehmer schon einmal die Basis dafür. Entscheidende Fragen galt es nicht zu klären, da die Gespräche zeigten, dass dies unmöglich ist, aber sie thematisieren, war ungleich wichtiger. Etwa wenn es um jüdische Identität, um eine moderne Gemeindeführung, um politische Fragen – wie etwa die Bedrohung aus dem Iran – geht, oder: Gibt es eine jüdische Kunst? Einfache Fragen, die jedoch den Rahmen von 90 Minuten fast immer sprengten.
Den Gemeindevertretern und -mitgliedern gaben sie aber genügend Stoff, um sie an der Bar, bei einem Spaziergang um die Alster angeregt zu besprechen. Allein beim Workshop »Kunst, Kultur und Kippa – junge jüdische Künstler in Deutschland«, war die Frage »Betreibe ich jüdische Kunst?« heftig umstritten. So viele Diskutanten wie mit Schauspielerin, Autorin und Regisseurin Adriana Altaras, der jungen Filmemacherin Tanja Grinberg, dem Regisseur Leo Khasin, dem Schriftsteller Benjamin Stein und den Comadian-Brüdern Avi und David Toubiana auf dem Podium saßen, so viele Antworten gab es auch. Und alle hatten sie aus der je eigenen Perspektive ihre Berechtigung.
Identität Noch grundsätzlicher diskutierten Moshe Baumel, Rabbiner der Zwi-Peres-Chajes-Schule Wien, Doron Kiesel, Professor für interkulturelle und internationale Pädagogik, Fachhochschule Erfurt, Rabbinerin Elisa Klapheck, Egalitärer Minjan Frankfurt, Landesrabbiner Jonah Sievers, Braunschweig und Niedersachsen, sowie Julian Chaim Soussan, Mainzer Gemeinderabbiner, und Rabbiner Joshua Spinner, Vizepräsident der Ronald S. Lauder Foundation und Gründungsdirektor von Lauder Yeshurun in Berlin, über jüdische Identität.
Was zeichnet sie aus, wie kann ich sie erlangen und wie erhalten? Dass dies in größeren Gemeinden mit einer guten jüdischen Infrastruktur naturgemäß einfacher ist als in kleinen Gemeinden mit 200 bis 300 Mitgliedern, in denen von Kinderbetreuung, Jugend und Alter alles geleistet werden muss, warf ein Grundsatzproblem in der Gemeinschaft auf. Denn gerade in den vielen kleinen Gemeinden muss die Identität gestärkt werden. Eine Zukunftsaufgabe.
Herausforderungen, die auch auf die Gemeindeführung zu übertragen sind. Unternehmensberater und Autor Thomas D. Zweifel stellte Ideen hierzu anhand seines Buches Der Rabbi und der CEO vor. Der Publizist Sergey Lagodinsky und Welt-Korrespondent Alan Posener sprachen über den iranisch-israelischen Konflikt.
Vorschläge Die Gemeindetagsteilnehmer zeigten mit ihren Fragen, wie sehr ihnen diese Themen am Herzen lagen. Und wenn es überhaupt Verbesserungsvorschläge für die dreitägige Veranstaltung gab, dann höchstens die, dass man aus zeitlichen Gründen nicht alle vier Workshops besuchen konnte, oder dass noch mehr kleinere Formate, wie der Schiur von Rabbiner Avichai Apel aus Dortmund, zum Giur angeboten werden sollten.
So äußerte sich zum Beispiel Stella Schindler-Siegreich aus Mainz, die sich ganz begeistert von Apels Ausführungen zeigte. Sara-Ruth Schumann aus Oldenburg hätte sich manchmal eine etwas straffere Gesprächsführung auf dem Podium gewünscht und bei den Künstlern eine Erweiterung auch durch bildende Künstler.
Das Fazit der Tage von Hamburg war bei allen Teilnehmern durchweg positiv. Herbert Rubinstein aus Düsseldorf fand den Gemeindetag bestens organisiert. »Wenn man die Online-Information regelmäßig verfolgt hat, blieb wirklich keine Frage offen«, sagte er. Auch Liliana Goldstein de Kuehne, stellvertretende Vorsitzende der Braunschweiger Gemeinde, sprach sehr positiv über das Wochenende. »Wir hatten gute Gespräche. Das Programm war anregend, die Treffen mit anderen Gemeindevertretern sehr bereichernd.« Der Vorsitzende der Thüringer Landesgemeinde in Erfurt, Wolfgang Nossen, bezeichnete den Gemeindetag als »ein sehr angenehmes Ereignis«.
Die Freiburger Gemeindevorsitzende Irina Katz war von dem großen Interesse an den Gottesdiensten angetan. Auch der Workshop zur jüdischen Identität habe ihr gefallen. »Das Programm war inhaltlich sehr gut.« Darüber hinaus fährt Irina Katz auch mit einem konkreten Ergebnis nach Hause: »Wir haben eine engere Zusam menarbeit mit dem Rabbinerseminar zu Berlin vereinbart. Davon wird unsere Gemeinde sehr profitieren.«
reden Unter dem Eindruck des gemeinsam verbrachten Samstagabends mit einer bestens aufgelegten Sharon Brauner und Band, bei der viele Teilnehmer bis halb drei am Morgen tanzten, war der Sonntagvormittag wieder der Politik vorbehalten. Besonders beeindruckend der Besuch des Ersten Bürgermeisters von Hamburg, Olaf Scholz, die Grundsatzrede von Dieter Graumann und des ehemaligen Regierungsberaters Gershon Baskin.
Sein Vortrag über die Hintergrundverhandlungen, die nach mehr als fünf Jahren endlich zu der Freilassung des israelischen Soldaten Gilad Schalit im vergangenen Jahr geführt hatten, zeigte vielen, welche Umwege, welche Gefahren und welche Tricks die Rettung dieses einen Lebens beinhalteten.
Baskin verband das Ereignis mit einem sehr persönlichen Erlebnis. Der Cousin seiner Frau war bei einer routinemäßigen Warenlieferung verschleppt und ermordet worden. Seine Frau habe ihn nach der Freilassung Schalits und dem hohen Opfer, dass Israel dafür bringen musste, gefragt, »Schalit lebt, mein Cousin ist tot, warum?« Kein Zuhörer im Saal, den diese Frage nicht rührte. Sie applaudierten stehend. Auch in der Trauer zeigte sich dieser Gemeindetag als eine Gemeinschaft. »One people, one community«, das Motto ging auf.