Probieren sie!», sagt die Dame am Essensstand. Energisch und doch freundlich streckt sie dem Besucher einen Pappteller entgegen, auf dem drei dünne Teigtaschen arrangiert sind. Roter Kaviar, Lachs und Quark bilden den Belag für die Blinis. Die Dame lächelt. Ihre Akzentfärbung verrät, dass sie genauso wie das Gericht aus Osteuropa stammt. Ihr Gegenüber, eine ältere Mainzerin, schaut mit einer Mischung aus Skepsis und Neugier auf den ihr entgegengehaltenen Teller. «Und wenn es schmeckt, kommen Sie einfach noch mal.»
Der Dialog der Kulturen funktioniert am effektivsten über den Magen. Ein leichter Jazz hallt durch das Foyer des Mainzer Gemeindezentrums, während am Imbissstand die Besucher Schlange stehen. Einige Meter weiter, am Eingang zur Synagoge, hat sich eine Menschentraube gebildet. «Nächste Führung in einer halben Stunde», kündigt Gemeindemitglied Julia allen Neuankömmlingen, die in regelmäßigen Abständen bei ihr anbranden, an. Einige Hundert sind es an diesem Donnerstagnachmittag schon gewesen. Alle wollen einmal die neue Synagoge von innen sehen.
fremdkörper In der gründerzeitlichen Mainzer Neustadt wirkt das Gemeindezentrum ob seiner einzigartigen Architektur nach wie vor wie ein Fremdkörper. Nicht ganz ein Jahr ist es her, dass es im Beisein von Bundespräsident Christian Wulff eröffnet wurde. Die mit grünlich glänzender Keramik verkleidete Silhouette ahmt die fünf hebräischen Buchstaben des Wortes «Kedushah» nach, «Heiligkeit».
Eine Form die neugierig macht. Beim ersten Tag der offenen Tür kurz nach der Einweihung zählte die Gemeinde stolze 12.000 Besucher. Bei der zweiten derartigen Veranstaltung im November 2010 waren es immer noch 5000. «Diesmal wollten wir uns vor allem an die Anwohner richten», erklärt die Gemeindevorsitzende Stella Schindler-Siegreich. Deshalb wurde als Termin ein Wochentag ausgewählt, und nur wenige Tage vorher in der lokalen Presse bekannt gegeben.
Auf den ersten Blick scheint die Gemeinde es mit dem Tag der offenen Tür etwas zu wörtlich zu nehmen. Sperrangelweit öffnet sich ein einzelnes Tor zum Synagogenplatz. Scheinbar unkontrolliert strömen Menschen, ein steter Fluss, der jedoch von zwei dezent am Rande des Platzes stehenden Polizeiwagen aus beobachtet wird. Es sind wieder Hunderte, die die Gelegenheit nutzen, das Innere des Gebäudes in Augenschein zu nehmen.
Gebote Die Besucher sind meist in kleineren Grüppchen unterwegs. Eines davon hat sich am Eingang zur Synagoge um Julia gescharrt, die nach wie vor geduldig Fragen zu Gemeinde, Glauben und Ritus beantwortet, während man weiter auf die nächste Führung wartet. Warum Männer in der Synagoge den Kopf bedecken müssen. «Es steht in den Geboten», antwortet Julia und ergänzt schnell, «nicht den zehn, sondern den 613 sogenannten Mizwot.» Sie fährt fort, den Unterschied zwischen Tora und Talmud zu erklären. Ein Grundkurs Judentum.
Um jedoch die Symbolik dieser Architektur zu entschlüsseln, bräuchte es eigentlich mindestens eines Fortgeschrittenenkurses. Das Schofar-Horn, das sich ebenfalls in der Form des Gemeindezentrums widerspiegelt, bleibt dem nicht vorgebildeten Besucher ebenso verborgen wie die hebräischen Buchstaben, in deren Form die meisten Fenster und Oberlichter gehalten sind.
Stattdessen haftet dem Inneren mit seinen unzähligen Schrägen und gebrochenen Linien beinahe etwas Surreales an. Wer die Treppe zum ersten Stock hinaufsteigt, um von der Frauenempore aus einen Blick in den Gebetsraum zu werfen, dem wird optisch ein wesentlich steilerer Aufstieg suggeriert, als es tatsächlich der Fall ist.
In Schwester Amalie hat das Gemeindezentrum einen echten Fan gefunden. «Mir gefällt das hier sehr gut», sagt die Ordensfrau, während sie vor dem geöffneten Aron HaKodesch steht, die vier Tora-Rollen der Gemeinde wie vier Zeugen im Rücken. «Sie ist auffällig. Aber daran gewöhnt man sich.»
Im goldgefärbten Innenraum der Synagoge wirkt die Nonne nicht weniger surreal, als die Architektur selbst. Dabei ist der Grund für ihren Besuch ein denkbar einfacher: «Wir sind Nachbarn. Da sollte man auch mal vorbeischauen.»
geschenk Mehr als nur vorbeischauen will jene Besuchergruppe, die den Ausführungen von Peter Waldmann, Vorsitzender des Landesverbands der Jüdischen Gemeinden von Rheinland-Pfalz, lauscht. «Das portable Vaterland der Juden», erklärt Waldmann, «ist die Tora.» Dieser Gedanke ziehe sich als roter Faden durch die gesamte Architektur des Gemeindezentrums.
Nach den ersten Lektionen am Eingang, folgt nun die Vertiefung des Wissens über das Judentum. «Schum-Städte», «Magenza», «Gerschom ben Jehuda», erklärt Waldmann. «Die jüdische Kultur ist Teil der rheinland-pfälzischen Kultur», betont der Fachmann. «Daher ist dieses neue Haus auch ein Geschenk an sie.»