IKG

Eine Stadt steht auf

Im Saal des Alten Rathauses, an jenem historischen Ort, von dem aus vor 77 Jahren mit der Hetzrede von Propagandaminister Joseph Goebbels die »Reichskristallnacht« initiiert wurde, fand am Montagabend die zentrale Gedenkstunde zum 9. November 1938 statt. In den Reden von Oberbürgermeister Dieter Reiter und IKG-Präsidentin Charlotte Knobloch spiegelte sich die aktuelle politische und gesellschaftliche Situation wider, vor allem das Erstarken der rechtsradikalen Kräfte in Deutschland.

Überschattet wurde die Gedenkfeier von der zeitgleich stattfindenden Pegida-Kundgebung an der Münchner Freiheit. Das von der Stadt ausgesprochene Verbot war kurz zuvor vom Verwaltungsgericht wieder aufgehoben worden. Charlotte Knobloch sprach von einer »völlig unverständlichen Entscheidung«, die regelrechte Verzweiflung bei ihr auslöse.

Neonazis »Unsere Rechtslage«, sagte Knobloch, »ist offensichtlich nicht geeignet, unsere Demokratie wehrhaft gegen ihre Feinde zu verteidigen. Dass 77 Jahre nach dem 9. November Rechtspopulisten und Neonazis durch unsere Straßen marschieren und ihre Ideologie verbreiten dürfen, ist die Demontage der freiheitlich-demokratischen Werte. Das bildet die Stimmung, aus der heraus Gewalt und Verachtung entstehen.«

Oberbürgermeister Dieter Reiter bedauerte mit Blick auf die besondere Rolle, die München als einstige »Hauptstadt der Bewegung« gespielt hat, dass sich die Justiz der städtischen Argumentation bislang nicht angeschlossen hat. »Selbstverständlich ist München in der Pflicht, diesen braunen Spuk zu beenden. Allein schon bei der Vorstellung einer solchen Zusammenrottung an diesem Tag des Gedenkens anlässlich der Pogromnacht vor 77 Jahren dreht sich einem der Magen um«, betonte er.

Nach Ansicht des Oberbürgermeisters müsse jedem inzwischen klar sein, »dass wir es bei Pegida zumindest im harten Kern mit Rechtsradikalen und Neonazis zu tun haben«. Das gelte insbesondere auch für München, wo die Pegida-Kundgebungen von Anfang an maßgeblich von Neonazis getragen wurden und sich mittlerweile unverhohlen antisemitisch zeigen würden. »Mit der bewussten Platzierung ihrer Versammlungen an sensiblen zeitgeschichtlichen Orten wie Königsplatz, Feldherrnhalle oder Platz der Opfer des Nationalsozialismus verhöhnt Pegida ganz gezielt die Opfer der NS-Zeit«, hob Reiter hervor.

Appell Charlotte Knobloch richtete in ihrer Rede einen Appell an Politik und Justiz, konsequenter gegen den fortschreitenden Antisemitismus vorzugehen: »Eine wehrhafte Demokratie darf nicht tolerieren, dass Geschichtsrevisionisten mit ihren perfiden Strategien den Rechtsstaat missbrauchen und die Staatsgewalten gegeneinander ausspielen, um ungestört ihr Gedankengift zu verspritzen.« Inzwischen, so die IKG-Präsidentin, würden die Hasskampagnen in bürgerliche Schichten eindringen. Nicht umsonst warne der Verfassungsschutz vor einem Schulterschluss von Rechtsextremisten mit aufgepeitschten Bürgern.

Die demokratischen Spielregeln, die nach dem Ende des Nationalsozialismus in Deutschland entstanden sind, haben nach Überzeugung der IKG-Präsidentin auch angesichts der Flüchtlingsströme eine ganz besondere Bedeutung. »Wer in unserem Land leben will«, erklärte Knobloch, »muss sich unbedingt zu den Fundamenten unserer Verfassung bekennen. Das sind vor allem die Grundrechte, Religionsfreiheit und Gleichberechtigung, unsere Rechtsstaatlichkeit, in der die Scharia keinen Platz hat, die Trennung von Staat und Religion und natürlich die Ächtung jeder Form von Antisemitismus sowie das klare Bekenntnis zum Existenzrecht Israels. Wir müssen wir bleiben. Das sollten wir uns heute an diesem historischen Ort, von wo aus Goebbels vor 77 Jahren das Tor zu Auschwitz aufschlug, versprechen.«

Auf diesen verhängnisvollen 9. November 1938 ging Oberbürgermeister Dieter Reiter in seiner Rede noch genauer ein. Mehr als 1000 Juden seien von der Gestapo verhaftet und ins Konzentrationslager Dachau verschleppt worden. 24 von ihnen seien dort an den Folgen von Misshandlungen gestorben. Hinzugekommen seien Übergriffe auf jüdische Einrichtungen, Geschäftshäuser und Wohnungen. In der Nacht seien auch die beiden noch verbliebenen Synagogen, die orthodoxe Ohel-Jakob-Synagoge in der Herzog-Rudolf-Straße und die ostjüdische Synagoge in der Reichenbachstraße, dem Terror zum Opfer gefallen sowie geschändet und in Brand gesetzt worden. Die Rückschau auf diese einzige Nacht sei erschütternd, sagte Reiter, doch der Terror durch die Nazis habe da erst angefangen.

aufarbeitung Andreas Heusler, Leiter der Abteilungen Zeitgeschichte und Jüdische Geschichte des Münchner Stadtarchivs, beschäftigte sich bei der Gedenkveranstaltung mit der Erinnerungskultur an den 9. November 1938. Er beschrieb den zögerlichen Umgang mit diesem Kapitel in der Nachkriegszeit. Erst in den 90er-Jahren seien zunehmend Fragen nach Schuld und Verantwortung aufgeworfen worden. »Dazu kommt«, so Heusler, »dass die Reichskristallnacht nicht mehr vornehmlich als singuläres Ereignis gedeutet, sondern als ein zentrales Problem der Dynamik der NS-Judenverfolgung erkannt wurde«.

Der Gedenkveranstaltung im Alten Rathaus war zuvor die öffentliche Namenslesung am Gedenkstein der ehemaligen Hauptsynagoge zur Erinnerung an die Münchner Todesopfer der nationalsozialistischen »Schutzhaftaktion« nach dem 9. November vorangegangen. Den Abschluss bildete das Totengebet El Male Rachamim, vorgetragen von Kantor Moshe Fishel.

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