Frau Geldmacher, es war ein Wunsch, der viele Jahre nur ein Traum war, jetzt ist er Wirklichkeit geworden: München hat ein eigenes jüdisches Gymnasium. In ein paar Tagen geht es nun los. Sind Sie aufgeregt?
Natürlich. Die Leitung des Jüdischen Gymnasiums, das von so vielen Seiten gewünscht und längst überfällig war, ist auch für mich eine große Herausforderung. Ich hoffe jedoch, dass ich etwas zum Gelingen beitragen kann. Aber mir ist durchaus bewusst, dass eine neu gegründete Schule nicht gleich von Anfang an so »geschmiert« laufen wird wie eine schon lange funktionierende Einrichtung. Das hat mir gelegentlich eine schlaflose Nacht bereitet.
Den ersten Gymnasiasten der jüdischen Schule wird also eine übernächtigte Direktorin gegenüberstehen?
Das ganz bestimmt nicht. In erster Linie freue ich mich, diese Aufgabe übernehmen zu dürfen – und über das Vertrauen, das mir bereits im Vorfeld entgegengebracht wurde. Was gibt es Schöneres für einen Lehrer, als eine Schule gründen und damit auch nach den eigenen pädagogischen Vorstellungen gestalten zu können?
Worauf kommt es beim Start besonders an?
Die wichtigste Phase ist der Anfang, der Aufbau der Strukturen, das Einschwören des Teams auf die Idee dieses Gymnasiums, das ja keines sein soll wie alle anderen.
Was ist beim Jüdischen Gymnasium anders?
Eine Besonderheit ist sicher, dass wir in allen Kernfächern zwei Lehrer einsetzen, einen Fachlehrer und einen, der für die Differenzierung und individuelle Förderung da ist. Darauf haben sich alle Lehrer, die ich ausgewählt habe, gerne eingelassen. Wirklich im Team zu arbeiten, ist auch für sie etwas Neues, denn im staatlichen System sind die Fachlehrer allein im Unterricht und müssen sehen, wie sie mit der Heterogenität einer Klasse zurechtkommen.
Gleich zwei Fachlehrer? Das ist im Vergleich zu staatlichen Schulen sehr aufwendig. Lohnt sich das auch? Die allererste fünfte Klasse des Gymnasiums hat ja ein kleineres Format ...
Wir brauchen diese Tandems zum einen, weil wir tatsächlich trotz der vergleichsweise wenigen Schüler eine große Leistungsheterogenität haben. Wir haben zum Beispiel ein Kind aus Israel, das nicht Deutsch spricht, und ein externes Kind, das noch kein Hebräisch kann. Hinzu kommt, dass ich der pädagogischen Überzeugung bin, dass man Kinder nur dann optimal fördern kann, wenn man sie nicht alle über einen Kamm schert. Wir haben in jeder Klasse, wie das auch an staatlichen Gymnasien ist, Schüler, die in manchen Fächern besonders weit sind, und andere, die noch Unterstützung brauchen. Im »Mainstream«-Unterricht langweilen sich die besonders Begabten, und die, die noch Förderung brauchen, steigen mental aus.
Es gibt nicht nur jeweils zwei Fachlehrer im Unterricht, auch die Führung des neuen Gymnasiums bekommt eine Doppelspitze. Weshalb?
Ja, das ist ein weiterer unschätzbarer Vorteil. Herr Schroll, der Religionswissenschaftler und Pädagoge ist und den Religionsunterricht in der Sinai-Schule gestaltet hat, wird auf dieser Basis und mit seinen Erfahrungen den jüdischen Bereich im Gymnasium aufbauen und das jüdische Profil schärfen. Das ist angesichts einer immer heterogener werdenden Gesellschaft ein unvergleichlicher Gewinn. Den jüdischen Kindern bietet das die Möglichkeit, ihre Religion, Kultur und Tradition zu vertiefen. Es ist nicht ein Nebeneinander, sondern ein Miteinander, trotz vorhandener Unterschiede. Kindern gelingt das leichter als vielen Erwachsenen, wie ich auch in der Sinai-Grundschule feststellen konnte.
Wie groß ist der Unterschied zum staatlichen Schulsystem?
Das fängt mit den großen Schulen, den großen Klassen und der daraus resultierenden Unpersönlichkeit an, in der manche Kinder einfach »verloren« gehen. Es ist ja auch sehr wichtig, dass Kinder in eine Schule gehen, in der sie in erster Linie gerne sind, in der sie wahrgenommen werden mit all ihren Bedürfnissen, Schwierigkeiten, Besonderheiten. Diese Form des Unterrichts habe ich bereits in der Sinai-Schule vorgefunden – und noch mehr: ein engagiertes Lehrerteam, eine intensive Zusammenarbeit mit den Eltern und nicht zuletzt ein Wertesystem, in dem die Kinder die Bedeutung von Gemeinschaft und Toleranz erleben. Das wird auch beim Jüdischen Gymnasium so sein.
An der Schulordnung, an der Gesetzeslage, an den Verordnungen dürften Sie allerdings nicht vorbeikommen.
Da führt kein Weg daran vorbei, aber unser Ziel ist ja die staatliche Anerkennung, womit verbunden ist, dass unsere Schüler langfristig ihr Abitur auch bei uns machen können. Das geht aber nur, wenn wir uns eng an die Schulordnung halten, etwa an die Stundentafeln und Fächervorgaben. Dennoch sollte es eine Schule mit deutlichem jüdischen Profil werden. Ohne die Schüler zu überfordern, wollten wir also zusätzlich Hebräisch als verpflichtende Fremdsprache, jüdische Religionslehre und Unterricht in jüdischer Literatur und Geschichte einbauen. Das ist uns gelungen, wenn auch nicht in dem Umfang, den wir vorgesehen hatten. Dafür wird das Schulleben geprägt sein vom jüdischen Kalender, den Feierlichkeiten, dem Gebet und den Traditionen – ähnlich wie in der Sinai-Schule.
Die Sinai-Schule besuchen auch nichtjüdische Kinder. Ist das beim Jüdischen Gymnasium auch der Fall?
Ja, und dass eine konfessionelle gebundene Schule auch nichtjüdische Kinder aufnimmt, hat mir besonders gefallen. Sie haben hier ganz spielerisch und quasi nebenbei die jüdischen Traditionen und religiösen Inhalte kennengelernt sowie die große Bedeutung von Gemeinschaft. Da ich die ganze Zeit über im Elternbeirat der Schule tätig war, konnte ich auf mehrfache Weise miterleben, wie gut es den Kindern in dieser Schule geht, wie sehr sie sich dort geborgen fühlen und wie sehr sie dort gefördert werden.
Ist das Ihre erste gymnasiale Erfahrung als Pädagogin?
Nein, ich selbst bin Gymnasiallehrerin für Deutsch und Geschichte und war lange Zeit an einem Münchner Gymnasium als Lehrerin tätig, bevor ich an die Ludwig-Maximilians-Universität München an den Lehrstuhl für Deutschdidaktik gewechselt bin, um dort in der Deutschlehrer-Ausbildung tätig zu werden. Ich kenne das Schulsystem in Bayern also sehr gut – sowohl aus Lehrerperspektive als auch aus der Perspektive der Lehrerausbildung.
Eugen Alter, Vorsitzender des Sinai-Elternbeirats und mittlerweile Mitglied im Vorstand der IKG, setzte mit einer Umfrage unter den Eltern die Initialzündung für das Jüdische Gymnasium. Zwischen Wunsch und Verwirklichung liegen nur eineinhalb Jahre. Das hört sich eher nach einem organisatorischen Spaziergang an. Täuscht der Eindruck?
Es war ein enormer Kraftakt nötig, der ohne IKG-Präsidentin Charlotte Knobloch nicht hätte realisiert werden können. Ihre Begeisterung, ihre Zuversicht, ihr Management hinter den Kulissen waren entscheidend dafür, dass das Jüdische Gymnasium kein Luftschloss geworden ist. Verbunden damit war eine überwältigende Unterstützung durch viele Beteiligte der Kultusgemeinde München, aber auch durch das Kultusministerium, die Stadt München und die Regierung von Oberbayern. Jetzt freue ich mich aber erst einmal auf die Arbeit mit den Schülern.
Mit der Direktorin des Jüdischen Gymnasiums München in Trägerschaft der IKG München und Oberbayern sprach Helmut Reister.