Tamara Lubarski kam vor 16 Jahren aus Riga nach Berlin. In Lettland arbeitete sie als Deutschlehrerin, in der neuen Heimat blieb sie ohne Job. Die 69-Jährige mit rotblondem Haar, eine sehr gepflegte Erscheinung, lebt seitdem mit ihrem Mann Genadi von staatlicher Hilfe, erhält sogenannte Grundsicherung. Ihre Tochter Janina, erzählt sie stolz, habe Jura studiert und arbeitet inzwischen als Anwältin. Und für die Mutter ist es selbstverständlich, sich ehrenamtlich in der Gemeinde zu engagieren.
Doch am Dienstagabend ist sie nicht in die Fasanenstraße gekommen, um wie sonst ihre literarischen Übersetzungen in einem der Zuwanderer-Klubs vorzustellen. Nein, heute will sie die Bundeskanzlerin sehen. Angela Merkel ist zu Gast. Im großen Saal spricht die zum Thema »20 Jahre Wiedervereinigung. Auch eine Erfolgsgeschichte für jüdische Gemeinden«.
Die Lubarskis und etwa 600 weitere Interessierte, nicht zu vergessen einige Ehrengäste, empfangen die CDU-Chefin stehend und mit freundlichem Applaus. Gemeindechefin Lala Süsskind begrüßt sie in einer Gemeinschaft, in der die meisten Mitglieder Einwanderer sind. »Einige kamen direkt nach Ende des Nazi-Regimes, viele Ende der 70er-Jahre, die meisten aber nach 1990.« Die Integration sei eine gewaltige Aufgabe gewesen. »Aber die Berliner Gemeinde gab und gibt ihr Bestes.« Süsskind betont, dass sich sowohl Alteingessene als auch die Neuen bewusst für die Bundesrepublik als Heimat entschieden hätten. »Wir leben sehr gerne hier in diesem Land, liebe Frau Bundeskanzlerin.«
Vertrauensbeweis Merkel versichert ihrerseits: »Jüdisches Leben gehört zu Deutschland, es hat hier seine Heimat.« Die Zuwanderung im Zuge der Wiedervereinigung sei eine gute Fügung gewesen und der 20. Jahrestag ein guter Anlass – damit greife sie eine Anregung des Münchner Historikers Michael Wolffsohn auf –, aus dieser Perspektive erneut über den Einigungsprozess nachzudenken. Das aufblühende jüdische Leben sei ein einzigartiger Vertrauensbeweis, dem sie nach Kräften gerecht werden wolle. »Die Stärkung des jüdischen Lebens in Deutschland und die Sicherheit des Staates Israel gehören zur deutschen Staatsräson.«
Die Kanzlerin lobt zudem die »enorme Integrationsleistung« der jüdischen Gemeinden. »Damit zeigen sie, was Integration bedeutet. Es wird vorbildlich an religiöser Einbindung und gesellschaftlicher Teilhabe gearbeitet. Und sie geben so ein wunderbares Beispiel gelungenen Miteinanders in unserer Gesellschaft.«
In der derzeitigen Integrationsdebatte denke kaum jemand an jüdische Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion, denn die seien in der Regel gut integriert. Die Diskussion ziele eher auf die Menschen, die sich vor vielen Jahren in Deutschland ansiedelten, »aber nur in Ansätzen angekommen sind«. Und auf diejenigen, deren Kinder und Enkelkinder hier zwar aufgewach- sen seien, sich dennoch schwer täten mit der deutschen Sprache und Kultur, Werten und Gepflogenheiten.
Plauderlaune Auch nach Merkels Rede geht es um dieses Thema. Moderatorin Maya Zehden trägt die Fragen der Gemeindemitglieder vor. Und Merkel ist an diesem Abend in Plauderlaune. Sie erzählt vom Leben in der DDR, ihrer Zeit in Templin, der Werteerziehung in der Familie. Dann soll sie noch kurz zur Praxis der Nichtanerkennung von Berufsabschlüssen der Zuwanderer Stellung nehmen. Die Kanzlerin spricht von einem »relativ betrüblichen« Vorgang, der aber jetzt mit einem vorliegenden Gesetzentwurf vorankomme. Dann die Ghettorenten, die auf die Grundsicherung angerechnet werden. Da muss die Kanzlerin inhaltlich passen. Schließlich noch eine Frage zu Integration und Migration: Ist Multi-Kulti tot? »Zuwanderung verändert ein Land. Daraus muss ein neues Gemeinschaftsgefühl entstehen, ohne dass die alte Kultur, Tradition und vor allem der Glaube beeinträchtigt wird«, sagt Merkel.
Die gelungene Überleitung zum Film von Levi Salomon, eine zehnminütige Dokumentation mit dem Titel Angekommen. Zu sehen sind russischsprachige Zuwanderer in der Berliner Gemeinde: kleine Schachgenies, hochbegabte junge Geigen- und Klaviervirtuosen. Perfekte Integration in Bildern. Alles klatscht.
Nach gut einer Stunde verabschiedet sich Merkel. Die Lubarskis machen sich wieder auf den Weg nach Reinickendorf, im Nordwesten Berlins. Für Mutter Tamara hat sich der weite Weg gelohnt, die Kanzlerin hat sie begeistert. »In der DDR hat sie etwa das Gleiche erlebt, wie wir in Lettland«, sagt die ehemalige Deutschlehrerin. »Sie versteht uns.«