Düsseldorf

»Eine enorme Leistung«

»Die Klassen 5a und 5b kommen bitte zu ihren Lehrern und gehen mit ihnen gemeinsam in die Klassenräume.« Michael Bock, Schulleiter des Albert-Einstein-Gymnasiums, steht auf dem Schulhof seiner funkelnagelneuen Schule, umringt von aufgeregten Fünftklässlern und ihren festlich gekleideten Eltern. Zu hören ist ein Sprachengemisch aus Deutsch, Russisch und Hebräisch. Unter begeistertem Klatschen der Eltern und der Ehrengäste aus der Düsseldorfer Jüdischen Gemeinde sowie aus Politik und Gesellschaft geleiten die Lehrer die frisch gebackenen Gymnasiasten ins Schulgebäude.

Eigentlich ist es nur ein Flügel eines U-förmigen Bürogebäudes im Stadtteil Rath, der zu den provisorischen Räumlichkeiten des ersten Jüdischen Gymnasiums in Düsseldorf umfunktioniert wurde – mit Mensa und Küche im Erdgeschoss und Klassenzimmern sowie Räumen für die Schulleitung und das Lehrerkollegium in der Etage darüber.

Der Weg zum Albert-Einstein- Gymnasium ist nicht leicht zu finden, denn das erste jüdische Gymnasium Nordrhein-Westfalens liegt mitten in einem Industriegebiet, in der Nähe von Autohäusern, Möbelfirmen und Bürogebäuden. Um auf das Schulgelände zu gelangen, müssen Schulbusse ein schweres Tor und Besucher einen Eingang mit Sicherheitsschleuse passieren.

Schultüten Einige Fünftklässler halten Schultüten in der Hand und schauen sich neugierig um, andere toben bereits durch den sonnigen Innenhof. Er wirkt noch etwas kahl, ohne Bäume, doch das wird sich mit Beginn des neuen Schuljahres ändern, also bereits ab Tag eins nach der Eröffnung.

»Es ist sehr aufregend«, sagt Isabella Svetlichny. »Wir sind so froh, dass das Gymnasium gerade jetzt eröffnet, wo unser Sohn in die fünfte Klasse kommt.« Die Svetlichnys kommen aus Israel und leben seit sechs Jahren in Düsseldorf. Sie hatten sich bereits andere Gymnasien angeschaut, als sie hörten, dass zu diesem Schuljahr das jüdische Gymnasium eröffnet.

Es sei für ihren elfjährigen Sohn Oliver die beste Wahl, sagen die Eltern. Einziges Manko sei der weite Weg, doch die Vorteile überwiegen: Weil ihr Sohn in Israel geboren wurde, liegen ihnen Hebräisch und die jüdische Kultur besonders am Herzen. 18 Kinder, neun Jungen und neun Mädchen, seien in Olivers Klasse –»sehr kompakt, wie eine Privatschule«, freuen sich die Svetlichnys.

Auch Alon und Inbal Arnon lebten früher in Israel. Ihr Sohn Elad hat – wie die meisten der Fünftklässler – die jüdische Grundschule in Düsseldorf, die Yitzhak-Rabin-Schule, besucht. Den Eltern sind besonders der Sicherheitsaspekt und der Gemeinderahmen wichtig. Sie wollen, dass ihr Sohn sein Judentum offen zeigen kann – das sei in einer jüdischen Schule anders möglich als an einer nichtjüdischen.

Familiär Außerdem sind sie überzeugt davon, dass an diesem Gymnasium das Konzept der »jiddischen Mamme« umgesetzt werde, sagt Alon Arnon – hohe Ansprüche verbunden mit familiärer Atmosphäre. Während die Familie draußen im Hof Platz nimmt und auf die feierliche Eröffnung wartet, schließen sich weitere Eltern Schulleiter Michael Bocks Führung durch die Räume an. Flure, Mensa und Zimmer sind hell gestrichen, der Fußboden in Orange setzt leuchtende Akzente. Es riecht noch ein wenig nach frischer Farbe. In der Küche bereiten Köche der Jüdischen Gemeinde gerade koscheres Essen zu.

Es fällt sofort auf, dass an dieser Schule so manches anders ist: Jedes Klassenzimmer ist unterschiedlich ausgestattet. Bankreihen, Waschbecken und Tafeln gibt es hier nicht. Was man braucht, etwa zum Experimentieren in den MINT-Fächern Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik, einem Schwerpunkt der Schule, wird von der Decke heruntergeklappt und ist multifunktional nutzbar. Dieser Aspekt trifft auf alle Räume zu: Tische und Stühle haben Rollen, außer in der Mensa, sind höhenverstellbar und so an die Ergonomie der Schüler anpassbar.

Als Grund dafür nennt der Schulleiter den vorläufigen Standort der Schule: »Wir wollen ja irgendwann eine richtige Schule bauen. Dieses Provisorium hier in dem früheren Bürogebäude gibt uns die Möglichkeit, auszuprobieren, was für die Kinder am besten ist.« Mit seiner langjährigen Erfahrung im Schuldienst habe er sich alles angeschaut, was derzeit auf dem Markt angeboten werde. Die Gemeinde habe ihn dabei sehr großzügig unterstützt und ihm bei der Auswahl freie Hand gelassen. Was sich hier bewährt, werde dann später in die Ausstattung für ein neues, permanentes Schulgebäude einfließen können, das an der Borbecker Straße gebaut werden soll.

Wände An alles scheinen die Konzeptplaner unter Michael Bocks Leitung gedacht zu haben: So verfügen sämtliche Klassenräume über einen Nebenraum. Dort können Kinder separat arbeiten, die wegen ihrer Leistung stärker gefördert oder unterstützt werden sollen. Auffällig ist, dass es in keinem der Klassenzimmer eine Tafel oder ein Smartboard gibt. Diese Funktion übernehmen die weißen Wände. Auch dafür hat Bock eine Erklärung: Die Wände sind mit einer speziellen Farbe gestrichen und können von den Schülern mit dafür geeigneten Stiften beschrieben werden. Mit der Schreibfläche ringsum wird das Provisorium also optimal genutzt.

Als die Eltern um Michael Bock die Bibliothek betreten, leuchten seine Augen auf. Dieser Raum habe ihm besonders am Herzen gelegen, sagt er. Regale bis unter die Decke warten auf Bücher. Angebote gibt es schon, unter anderem eine Kooperation mit der Stadtbücherei. Durch den Raum schlängelt sich ein weiteres hüfthohes Regal, das Leseraum in gemütliche Zonen aufteilt – hinten stehen Tische zum Arbeiten, vorne bunte Stühle und Sofas. Das ganze Haus verfügt zudem über WLAN.

Kulturtechnik Aber, betont Schulleiter Bock, die Kinder sollen »genauso lernen, mit einem Buch umzugehen wie mit einem Tablet oder Laptop«. Er sei »immer ein Verfechter und Freund von Büchern gewesen – es wäre schade, wenn man diese Kulturtechnik verlieren würde«, sagt Bock lächelnd.

Lesen und sich in den Pausen entspannen können die Kinder im sogenannten Multifunktionsraum: Aus Sicherheitsgründen durften die Gänge kein langer Schlauch sein und mussten von einem Zwischenraum unterbrochen werden. Die Schüler haben die Wahl zwischen orangefarbenen, grünen und blauen Sofas, hinter einer Art Anrichte liegen Zeitschriften und Bücher aus. »Ich glaube, die Kinder werden sich hier sehr wohlfühlen«, sagt der Schulleiter.

Zeev und Milla Hendler nicken zustimmend. Die Hendlers leben traditionell. Sie wohnen seit einem Jahr in Düsseldorf und empfinden es als »großes Glück«, dass es jetzt die Schule gibt. Ihr jüngerer Sohn geht noch auf die jüdische Grundschule und wird seinem großen Bruder Ever in einem Jahr aufs Albert-Einstein-Gymnasium folgen. Als die Hendlers den Schulhof wieder betreten, begrüßt gerade Michael Szentai-Heise, der Verwaltungsdirektor der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf, die Gäste zur feierlichen Eröffnung des Gymnasiums.

Ansprachen An dem Festakt nehmen neben Vertretern der Jüdischen Gemeinde und des Zentralrats der Juden in Deutschland, der von Zentralratsvizepräsident Abraham Lehrer vertreten wurde, zahlreiche Repräsentanten aus Politik und Gesellschaft teil. »Es ist vollbracht – das erste jüdische Gymnasium in Düsseldorf, in Nordrhein-Westfalen überhaupt, öffnet seine Tore. Wir sind glücklich«, sagt Gemeindevorstand Oded Horowitz.

Düsseldorfs Oberbürgermeister Thomas Geisel (SPD) sagt, mit dem »Provisorium in der Theodorstraße« sei der Startschuss für eine Entwicklung gegeben worden, die »einen wichtigen Beitrag für die Entwicklung der Düsseldorfer Schullandschaft« leisten werde. Die Ministerin für Schule und Weiterbildung sowie stellvertretende Ministerpräsidentin des Landes Nordrhein-Westfalen, Sylvia Löhrmann (Bündnis 90/Die Grünen), überbringt Grüße und Glückwünsche von Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD). Sie sagt: »Es ist ein besonderer Moment. Die Eröffnung dieser Schule ist von historischer Bedeutung für Nordrhein-Westfalen, auch für Deutschland.«

Vision Schuldirektor Michael Bock beginnt seine Ansprache mit einem Zitat von Theodor Herzl: »Wenn ihr wollt, ist es kein Traum.« Er dankt dem Vorstand, der Gemeindeverwaltung und dem Gemeinderat für die Unterstützung und blickt in die Geschichte zurück: Die gute Arbeit der seit 21 Jahren bestehenden Yitzhak-Rabin-Grundschule habe dazu geführt, dass viele Kinder Gymnasien in unterschiedlichen Stadtteilen Düsseldorfs besucht hätten. Auf den erworbenen jüdischen Grundlagen sei jedoch schulisch nicht aufgebaut worden. Nun sei der Schritt »von der Vision zur Wirklichkeit« vollzogen.

Düsseldorfs Gemeinderabbiner Raphael Evers betont: »Die Eröffnung des ersten jüdischen Gymnasiums in ganz Nordrhein-Westfalen ist eine enorme Leistung.« Eine Schule sei ein Platz zum Lernen; Lernen sei die einzige Gewissheit, dass das Erbe der Tora lebendig bleibt.

Der Rabbiner ist es auch, der unter Jubel und aufsteigenden blau-weißen Luftballons die Mesusa am Eingang zur Schule anbringt – das erste Schuljahr am Albert-Einstein-Gymnasium kann beginnen.

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