Die Dokumente jüdischen Lebens aus der jahrtausendealten Geschichte Kölns liegen in einem ehemaligen Lager eines großen Möbelhauses im Stadtteil Porz-Lind. In Archivkartons, auf 10.000 Quadratmetern, zwischen hochwertigen technischen Maschinen und empfindlichen Geräten mit spezieller Software. Schwer zugänglich, schwierig aufzufinden und vor allem: ungeordnet.
»Die ursprüngliche Ordnung existiert seit dem 3. März 2009 nicht mehr«, sagt Monika Frank, Mitarbeiterin für Historische Bildungsarbeit am Historischen Archiv der Stadt Köln. Damals stürzten das Kölner Archivgebäude sowie zwei benachbarte Wohngebäude im Zusammenhang mit dem unter dem Komplex verlaufenden Neubau einer U-Bahn ein. Zwei Menschen starben. Eines der bedeutendsten kommunalen Archive nördlich der Alpen mit einem Bestand von rund 30 Regalkilometern Akten aus über 1200 Jahren kölnischer, regionaler, deutscher und europäischer Geschichte war in einem riesigen Krater versunken.
Wert Durch die dichte Überlieferung seit dem Hochmittelalter mit zahlreichen Urkunden, Akten, Handschriften und Nachlässen gelten die Bestände als geschichtlich besonders wertvoll. Seine Bedeutung bezieht das Kölner Stadtarchiv schließlich auch aus der Überlieferung und Sammlung von Judaika, die in dieser Dichte und Reichhaltigkeit ein einmaliges Ensemble bilden. Unzerstört hatte der Bestand des Stadtarchivs den Zweiten Weltkrieg überstanden.
95 Prozent des ursprünglichen
Bestandes konnten nach
dem Einsturz noch geborgen werden.
Nach dem Einsturz vor zehn Jahren konnten rund 95 Prozent des Archivbestands in monatelanger mühevoller Handarbeit unter schwierigen Bedingungen geborgen werden, fünf Prozent sind unwiederbringlich verloren. Die Bergungsphase dauerte mit Unterbrechungen zweieinhalb Jahre.
reinigung Nun befinden sich die Archivalien entweder im Gebäude des ehemaligen Landesarchivs Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf oder in dem schmucklosen, funktionalen ehemaligen Möbellager weit entfernt von der Innenstadt in einem Gewerbegebiet. Hier werden seit vielen Jahren die geborgenen Archivalien gereinigt, ihren Beständen – wenn möglich – virtuell zugeordnet und schließlich im Original oder digitalisiert für die Allgemeinheit wieder nutzbar gemacht.
»Den zusammenhängenden oder einheitlichen Bestand ›Judaika‹ gibt es nicht«, sagt Monika Frank. »Denn Zeugnisse jüdischen Lebens können in unserem Archiv in so gut wie allen Beständen vorkommen – in mittelalterlichen Urkunden ebenso wie in Akten des Bauamts oder in Familiennachlässen. Im Moment müssen wir einfach schauen, welche Archivalien mit jüdischem Bezug aus dieser Vielfalt zugänglich sind«, erklärt die Expertin. Spuren jüdischen Lebens gibt es überall, nicht nur in einem speziellen Judaika-Bestand. »Auch die Quellen zur jüdischen Geschichte sind vom Einsturz betroffen und nicht mehr in ihrem ursprünglichen Zusammenhang. Das ist das größte Problem, denn Archive leben von ihrer Ordnung«, sagt Monika Frank.
Seit dem Einsturz kann das Stadtarchiv demnach seiner Aufgabe, die Bestände im traditionellen Sinn zu erhalten, zu erschließen und zugänglich zu machen, nicht mehr ausschließlich nachkommen. Hauptaufgaben sind nun Restaurierung und Neuordnung.
Die Struktur und Ordnung
des Bestands ist oft
nicht mehr vorhanden.
Die Auswahl ist beliebig, mitunter zufällig, weil die Bestände und kleinen Einheiten, die dem riesigen Archivbestand seine Struktur und Ordnung gegeben hatten, nicht mehr existieren. Vielfach gibt es nur einzelne Blätter, die zugeordnet werden müssen. »Das ist mitunter schwieriger als die Beschädigungen selbst.«
Ein Beispiel: In einem Karton lagern schreibmaschinenbedruckte zerknitterte und verschmutzte Papierschnipsel. Einige Worte lassen darauf schließen, dass es sich um das Protokoll eines Verbandstreffens handelt. Zuallererst geht es darum, Seite für Seite oder Einzelteile eines Dokuments von Staubpartikeln und Betonteilchen zu reinigen. Jedes Stück ist durch den Einsturz mit diesem Betonstaub überzogen und muss vor der Benutzung gereinigt werden.
judenschreinsbuch Manche Archivalien befinden sich im Gegensatz dazu in einem bemerkenswert guten Zustand, manches hat den Einsturz sogar unversehrt überstanden. Darunter ist auch eines der bedeutendsten Zeugnisse jüdischen Alltagslebens: das sogenannte Judenschreinsbuch aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Auf mehr als 80 einzelnen Pergamentzetteln in hebräischer Sprache wurden Rechts- und Immobiliengeschäfte fixiert.
»Dieser Bestand ermöglicht einen einzigartigen Einblick in das mittelalterliche Alltagsleben der nachweislich urkundlich ältesten jüdischen Gemeinde nördlich der Alpen«, erläutert Monika Frank und schlägt eine Seite mit einer hebräischen Urkunde und einem lateinisch abgefassten Eintrag auf. Darin wird bestätigt, dass eine junge Frau namens Batseba mit Erlangung des Jungfrauenalters dazu berechtigt ist, das Erbe ihres Vaters, ein Viertel eines Hauses in der Judengasse, zu verkaufen. In einem anderen Rechtsgeschäft geht es um einen Holzbalken vom Rathaus, der auf dem Haus eines Kölner Juden ruht.
Schreinsbücher sind
die Vorläufer
des Grundbuchs.
Schreinsbücher sind die Vorläufer des Grundbuchs. Das Judenschreinsbuch gilt als das älteste überlieferte nichtreligiöse hebräische Textzeugnis des Mittelalters überhaupt und stammt aus dem Bezirk der ehemaligen Pfarrei Sankt Laurentius. »Das ist nicht ungewöhnlich, denn in den Kirchengemeinden haben die Schreinsbücher ihren Ursprung«, sagt Archivmitarbeiterin Frank. Wichtiger ist aber: »Wir haben hier wunderbare Quellen, um in den Gemeindealltag, auch zwischen den Religionen innerhalb eines Siedlungsbezirks, einzusteigen.
Während aus Sicht des Schreinsbuches eigentlich nur der eine Immobilie betreffende Rechtsakt als solcher zählt, verraten die beigefügten hebräischen Urkunden viel mehr über die Binnenstrukturen der jüdischen Gemeinde als eigenem Rechtsverband.«
Eidbücher Aufschlussreich sind auch die sogenannten mittelalterlichen Eidbücher, die ebenfalls über Rechtsgeschäfte zwischen dem Kölner Rat und den Angehörigen der ältesten jüdischen Gemeinde nördlich der Alpen berichten. Da geht es beispielsweise um die Aufnahme von Juden in den Schutz der Stadt, Turmhaft für Johannes Kornegil wegen »Judenhetze« oder um die städtische Erlaubnis für die Kinder und Erben von Moses von Uberlingen und seiner Frau Brune, ein Haus zu bewohnen.
Unter den mehr als 2000 Handschriften des Archivs ragt ferner ein medizinisches Traktat aus dem 14. Jahrhundert hervor, das eines der ältesten datierten jiddischen Schriftstücke ist. Der Nachlass Bodenheimer enthält Unterlagen des Mitbegründers des Zionismus, Max Isidor Bodenheimer, meist jedoch Kopien von Originalen aus den Central Zionist Archives in Jerusalem.
Auch Dokumente über den aus Köln stammenden Komponisten
Jacques Offenbach lagen im Archiv.
Bedeutend sind auch die Dokumente und Archivalien über den aus Köln stammenden Komponisten Jacques Offenbach. Zum Bestand gehört beispielsweise ein Exemplar der Erzählung von Israels Auszug aus Ägypten, eines Werks aus der Feder von Offenbachs Vater Isaac, Kantor der Israelitischen Gemeinde zu Köln. Nicht nur in Köln wird in diesem Jahr der 200. Geburtstag von Jacques Offenbach gefeiert. Das Skizzenbuch des Komponisten zeigt die saubere Notenschrift des Schöpfers der zeitlos schönen Ohrwürmer »Can Can« und »Barcarole«.
»Nichts ist ganz verloren, aber der Einsturz hat alle Bestände getroffen«, fasst Monika Frank zusammen. »Aber das alles wiederherzustellen und zusammenzuführen, ist eine generationenübergreifende Aufgabe.«