Wenn dieser Tage der Dortmunder Rabbiner Avichai Apel (40) nach Frankfurt wechselt, wird es keine Vakanz geben. Denn sein Nachfolger steht schon fest. Auch er ist in Dortmund kein Unbekannter: Baruch Babaev. Der 39-Jährige ist selbst Mitglied der Jüdischen Kultusgemeinde. Mit ihm wird Rabbiner Apels Wunschkandidat dessen Nachfolge antreten. Denn er war es, der ihn als Wanderrabbiner zum Landesverband geholt hatte, wo Babaev bislang seit zweieinhalb Jahren für neun Gemeinden in Westfalen-Lippe zuständig war.
Dortmunder Gottesdienstbesucher kennen den neuen Rabbiner. Unter der Woche kommt es häufiger vor, dass Baruch Babaev in der ersten Reihe der Synagoge sitzt. Er spricht ihre Sprache, Russisch, aber auch Deutsch und Hebräisch. Allerdings stammt er nicht wie Avichai Apel aus Israel, sondern aus Tadschikistan. Er kam wie viele Juden aus der ehemaligen Sowjetunion 1991 als Kontingentflüchtling nach Deutschland – wie auch die meisten seiner Gemeindemitglieder.
duschanbe Der sechsköpfigen Familie Babaev wurde zunächst eine Wohnung in Leipzig zugewiesen. »Ich war 15 Jahre alt und wurde sofort eingeschult«, sagt Baruch Babaev. »Ich war der einzige Ausländer. Aber wir sind sehr, sehr freundlich aufgenommen worden – sowohl in der Gemeinde als auch in der Nachbarschaft und Schule. Ich hatte viel Glück.« Dennoch sei der Anfang nicht leicht gewesen. Denn einen Deutschkurs bekam er nicht. »Ich habe immer alles eins zu eins von der Tafel abgeschrieben und dabei nach und nach Deutsch gelernt.«
Den Westen hatte er sich anders vorgestellt. »Ich dachte, Deutschland sei viel entwickelter. Aber wir kamen ja in die ehemalige DDR. Viele alte Häuser, die nicht saniert waren. Durch die Kohleheizung war alles pechschwarz und gräulich«, erinnert er sich. »Es war Winter. Das Wetter war grau, die Gebäude waren grau, und es war kalt.« Ganz anders als in der tadschikischen Hauptstadt Duschanbe – 800 Meter hoch gelegen und deutlich wärmer als der deutsche Osten.
Heute ist es eine Stadt mit 780.000 Einwohnern. Sie ist politischer, kultureller und wirtschaftlicher Mittelpunkt des zentralasiatischen Landes. »Dort gab es sogar jüdisches Leben«, erzählt Babaev – zumindest bis zur Öffnung des »Eisernen Vorhangs«. »Wir konnten unsere Religion ausleben, auch wenn es im Konflikt mit dem Staat passierte«, erinnert sich der Rabbiner. »Aber je weiter weg man vom Zentrum und von Moskau war, desto mehr konnte man seine Freiheiten genießen.«
Und Tadschikistan ist ziemlich weit weg von Moskau. »Wir hatten eine große Gemeinde, eine Synagoge und Infrastruktur. Jüdische Hochzeiten wurden gefeiert, es gab koscheres Fleisch«, erinnert er sich. Heute ist das Gemeindeleben dort Geschichte: Bis auf wenige Familien sind alle Juden nach Israel, in die USA oder nach Deutschland ausgewandert. Viele gingen nicht ganz freiwillig: Denn die Unabhängigkeit wurde erkämpft – es gab Krieg. Daher verließ auch Familie Babaev das Land.
ausbildung Ursprünglich wollten sie nach Israel. Aber es war die Zeit des Golfkrieges, und Saddam Hussein beschoss Israel mit Raketen. Die Familie wollte nicht vom Regen in die Traufe kommen. Daher gingen die Babaevs nach Deutschland. »Für ein oder zwei Jahre. Das war der Plan.« Doch es kam anders: Weil die Familienmitglieder die deutsche Sprache gelernt, Ausbildung, Arbeit oder Studium begonnen hatten, wurde die Alija nach Israel immer wieder vertagt.
So arrangierten sie sich mit Leipzig. Dort kamen sie in eine deutlich kleinere jüdische Gemeinde: Sie hatte nur 30 Mitglieder – die meisten waren Überlebende oder deren Nachkommen, die unmittelbar nach der Schoa geboren waren. Jugendliche gab es keine. Doch nach der Ausbildung und dem Studium sind Baruch Babaev und seine Geschwister dann doch nach Israel gegangen. Rabbiner zu werden, stand zu dieser Zeit für Baruch nie auf dem Plan – zumindest nicht in Deutschland. Er hatte in Berlin Wirtschaft studiert und schloss sein Studium als Diplom-Kaufmann ab.
Jeschiwa »Ich stamme aus einer traditionellen Familie. Aber ich hatte nie die Möglichkeit, die Tora zu studieren. Ich hatte viele Fragen.« In Deutschland fand er nicht genügend Antworten. Daher entschloss sich Babaev, in Israel für ein Jahr an eine Jeschiwa, eine Talmud-Tora-Schule, zu gehen. Diese Entscheidung änderte alles. Denn deren Leiter überzeugte ihn, auch Prüfungen abzulegen. »Dann lernt man intensiver«, berichtet Babaev.
Er nahm das Studium ernst – und blieb dabei. Babaev studierte, heiratete, wurde Rabbiner. Auf einem Kongress in Jerusalem traf er schließlich Avichai Apel. »Wir kannten uns schon aus Berlin. Er hat mich gefragt, ob ich mich als Wanderrabbiner in Westfalen-Lippe sehen könnte. Das klang sehr nach Abenteuer.«
Es sei eine schwierige und fordernde Aufgabe: Man sei für mehrere Gemeinden zuständig – mit vielen unterschiedlichen Wünschen, Traditionen und Charakteren. Allerdings komme man eher als Gast – für einen Schabbatgottesdienst oder einen Feiertag. Mitunter vergingen vier bis sechs Wochen zwischen den Gottesdienstbesuchen – abgesehen von Hochzeiten oder Beerdigungen.
Hausstand Außerdem stellt die Halacha einen Wanderrabbiner vor spezielle Herausforderungen. Denn anders als ein Priester im ländlichen Raum, der ebenfalls für mehrere katholische Gemeinden zuständig ist, kann sich ein Rabbiner nicht einfach ins Auto setzen und von Gottesdienst zu Gottesdienst fahren – wegen des Fahrverbots am Schabbat. Also müssen er und seine Familie für einen Tag – mitunter auch für mehrere Tage – in einem Gäste- oder Hotelzimmer bleiben.
Allerdings gibt es nirgends Quartiere, die den jüdischen Vorschriften entsprechen. Daher muss quasi der halbe Hausstand mit: Lebensmittel und Getränke, Kochutensilien und Geschirr, Kleidung und Wäsche sowie Bücher. »Das macht es so schwierig. Es ist nicht für jedermann«, räumt Babaev ein. »Man wird sehr schnell müde.« Vor allem für die Familie kann dieser Ablauf zunehmend zur Belastung werden.
motivation Dennoch habe er sich bewusst für die Aufgabe des Wanderrabbiners entschieden, weil er mit Avichai Apel arbeiten wollte. Das Vorstandsmitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz sei charismatisch und genieße einen hervorragenden Ruf. »Ich wollte von ihm lernen«, begründet Babaev seine Motivation. Dass er nun Apels Nachfolger in Dortmund wird, sei »eine Herausforderung und Ehre zugleich« für ihn.
Er und seine Frau Shulamit (37) sind zwar Gemeindemitglieder, kennen aber noch nicht so viele Juden in Dortmund. Denn bei den Schabbatgottesdiensten und an den Feiertagen waren sie ja bisher meist auswärts in einer der neun Gemeinden des Wanderrabbiners unterwegs. Das wird sich ab dem 1. August ändern. Dann tritt Babaev offiziell seine neue Aufgabe in Dortmund an. Seine Frau, eine Israelin in der dritten Generation, freut sich darauf. Da sie bisher noch nicht so gut Deutsch und kein Russisch spricht, sondern Englisch und Hebräisch, konnte sie in Deutschland bislang nicht in ihrem erlernten Beruf als Betriebswirtin arbeiten.
Rebbetzin Als Frau des Gemeinderabbiners ist sie neugierig darauf, verschiedene Aufgaben zu übernehmen. So will sie zum Beispiel regelmäßige Angebote für Frauen organisieren und sie dabei auch begleiten. Außerdem wird sie sich um das von Rabbiner Apel initiierte »Offene Haus« kümmern. Denn als Rabbiner-Ehepaar lade man traditionell Gäste ein und lebe ihnen die jüdischen Traditionen und den Umgang mit der Kaschrut vor, so Shulamit Babaev.
Fortsetzen will der designierte Rabbiner auch die vertrauensvolle Zusammenarbeit seines Vorgängers mit Christen und Muslimen: »Es ist wichtig, das Miteinander zu pflegen. Und das wollen wir tun. Wir dürfen verschieden sein, aber müssen miteinander auskommen.«