Leipzig

Ein Jahrzehnt Begegnung

Das Ariowitsch-Haus ist Ausdruck der Wohltätigkeit, wie Zentralratspräsident Josef Schuster sagt. Foto: Uwe Winkler

Von Angst war in den Reden zur Eröffnung der 13. Jüdischen Woche am vergangenen Sonntag in Leipzig nichts zu hören. Keine Angst nach einer Europa- und Kommunalwahl, aus der die AfD in Sachsen fast flächendeckend als stärkste Kraft hervorging. Keine Angst nach einem Jahr mit 138 Anzeigen von antisemitischen Straftaten in Sachsen. Und doch sprach Martin Maslaton von so viel Beunruhigung, dass der Leipziger Oberbürgermeister Burkhard Jung (SPD) seine vorbereitete Rede verwarf und auf die Worte des Vorsitzenden des gastgebenden Vereins Ariowitsch-Haus reagierte. Was war passiert?

Maslaton hatte die Frage aufgeworfen, ob heute noch, zum zehnten Geburtstag des Zentrums für jüdische Kultur, eine Mehrheit für so einen Bau wie das Ariowitsch-Haus zu finden wäre. Damals, 2009, sei die Grundstimmung positiv gewesen, die Gesellschaft, die Stadt und auch die Nachbarschaft hätten es – trotz juristischer Streitereien – unterstützt.

»Wäre das auch heute so?«, fragte der Jura-Professor, der mit seiner Rede den Gästen, wie er sagte, im Gedächtnis bleiben wollte. Er habe schon ein braunes Grollen in Leipzig vernommen, erinnerte er an eine Gedenkveranstaltung zum Novemberpogrom 1938 vor zwei Jahren in der Thomaskirche. Draußen liefen die »Legida«-Demonstranten, und bis drinnen habe er die »Schande«-Rufe von ihnen gehört. Und Maslaton kritisierte, warum Gemeinden beispielsweise Burkini-Verbote in Schwimmbädern beschließen würden.

Toleranz »Wir leben von Toleranz. Aber sind wir noch die Mehrheit?«, fragte Maslaton sich und die gut 100 geladenen Gäste. Er meine damit Menschen, die noch die »Zeit« lesen und den Deutschlandfunk hören, beschrieb er die erhoffte Mehrheit etwas näher. »Dass jeder Vierte in Sachsen momentan sein Kreuz bei der AfD macht, beunruhigt mich nicht so«, sagte Martin Maslaton. Aber wer in Krisenzeiten bei Polizei und Bundeswehr noch treu zur Verfassung und zur Glaubensfreiheit stehe, diese Frage beunruhige ihn schon.

»Die Luft ist wirklich rauer geworden«, sagt Leipzigs OB Burkhard Jung.

Der Leipziger Oberbürgermeister stimmte dem Vereinsvorsitzenden Maslaton zwar zu, dass »die Luft wirklich rauer geworden« sei. Gewalt, Verleumdung und Hass würden zunehmen, es gebe Polarisierungen und Demokratieskepsis. »Aber in Leipzig gibt es die Mehrheit, die glasklare Mehrheit, die das Haus wieder so bauen würde wie 2009«, bekräftigte Burkhard Jung die Unterstützung der Stadt für dieses Haus. »Aber es gehört zur Wahrheit, dass wir auf die Straße müssen, Stellung beziehen«, forderte das Stadtoberhaupt – zugleich Präsident des Deutschen Städtetags – dazu auf, auch etwa in Sport- oder Kleingartenvereinen gegen antisemitisches Reden aufzustehen. Was bislang getan werde, reiche noch nicht aus.

Doch zehn Jahre Ariowitsch-Haus seien ein guter Anlass, um mehr zu tun. Dieses offene Haus, gleichzeitig Kulturzentrum und Mehrgenerationenhaus, passe zum Motto »Von Generation zu Generation« der 13. Jüdischen Woche, meinte Jung. Es solle ein offenes Haus bleiben für jüdische, christliche und auch atheistische Geschichten, sagte der evangelische Christ.

Austausch Auch der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, lobte die Bedeutung dieses Hauses als Ort der Begegnung und des Austauschs. Und er erinnerte daran, dass die Jüdische Allgemeine zur Eröffnung »Glücksmomente« titelte. »Sie bauen hier Brücken zwischen den Religionen, zwischen unterschiedlichen Kulturen, kurz: zwischen Menschen.« So biete das Haus Veranstaltungen jedes Jahr während der Buchmesse oder wie 2016 während des Katholikentags, zudem regelmäßig Vorträge, Zeitzeugengespräche, Filmvorführungen, Kurse für Flüchtlinge oder Tanzabende, zählte Schuster auf.

Josef Schuster warnt vor einer regionalen Regierungsbeteiligung der AfD.

Parallel konnte jeder Gast im Saal sowohl eine Fotoausstellung zum Bau des Hauses als auch eine Ausstellung zu Ephraim Carlebach, dem berühmtesten Rabbiner der Stadt, sehen. Doch diesen Brückenbau sieht Schuster durch das starke Abschneiden der AfD bedroht. Diese Partei reiße Brücken ein und errichte stattdessen Zäune. Damit es nur bei verbalen Zäunen bleibe, »darf niemand mit der AfD eine Regierungskoalition eingehen«, forderte der Präsident – und erhielt dafür spontanen Applaus.

Der Zentralratspräsident erinnerte daran, dass der ursprüngliche Bau des Ariowitsch-Hauses, des jüdischen Elternheims, Ausdruck der Wohltätigkeit der jüdischen Unternehmerfamilie Ariowitsch gewesen sei. »Das Judentum gehörte damals selbstverständlich zur Stadtgesellschaft dazu«, rief Schuster ins Bewusstsein. Doch die Nationalsozialisten deportierten alle Bewohner dieses Altenheims nach Theresienstadt. Bis zu 8000 der 12.000 Leipziger Juden seien in der Schoa ermordet worden.

Neugründung Nach dem Zweiten Weltkrieg waren es dann 24 Überlebende, die 1945 die Israelitische Religionsgemeinde wieder gründeten. Und der Bundestagsabgeordnete Thomas Feist (CDU) kennt einen von ihnen, denn es war sein Urgroßvater.

Der CDU-Politiker Thomas Feist ist ein Urenkel eines Gemeindemitbegründers.

»Vor Ihnen steht ein Urenkel«, sagte der Politiker und erzählte, dass sein Urgroßvater skeptisch gewesen sei, ob jüdisches Leben in Leipzig wieder möglich wäre. »Umso mehr freue ich mich über das, was entstanden ist«, sagte Feist, der seit diesem Jahr Beauftragter für jüdisches Leben und gegen Antisemitismus im Freistaat Sachsen ist.

Auch der Beauftragte der Bundesregierung für jüdisches Leben und gegen Antisemitismus war anwesend: Felix Klein saß während der Eröffnung als Violinist im Diplomatischen Quartett auf der Bühne und sorgte für den musikalischen Rahmen.

Israeltage »Jüdisches Leben ist möglich, wenn auch in kleinen Gemeinden«, konstatierte sein sächsischer Kollege Thomas Feist. Die drei Großstadtgemeinden in Leipzig, Dresden und Chemnitz haben rund 2500 Mitglieder. Doch auch jenseits der Großstädte sei das Engagement für jüdisches Leben in Sachsen vorhanden, etwa durch die Israeltage und andere Initiativen, lobte Feist. Er forderte aber mehr Geld für diese Begegnungsarbeit.

Mit Forderungen oder Sorgen hielt sich der Vorsitzende der Israelitischen Religionsgemeinde in Leipzig zurück. Küf Kaufmann, dem von allen Vorrednern namentlich ausdrücklich für seine Aufbau- und Mitarbeit gedankt worden war, wollte selbst nur sagen: »Danke, Leipzig!« Sein Wunsch: dass der Respekt voreinander wachse. Das Ariowitsch-Haus und die Jüdische Woche mit ihren über 100 Veranstaltungen wollen dazu beitragen.

Weitere Veranstaltungen: 28. Juni, 15 bis 18 Uhr: Internationales Begegnungsfestival und Eröffnung des 5. Internationalen Fußballbegegnungsfestes, Augustusplatz. 29. Juni, 15 Uhr: »Ein Leben zwischen Israel und Leipzig«, Vortrag einer jüdischen Familie, die zwei Jahre in Leipzig lebte und nun wieder nach Israel zurückgeht. Anschließend wird gemeinsam gekocht und gegessen. Eine Veranstaltung für Familien mit Kindern, im KOMM-Haus, Selliner Straße 17. Am 30. Juni, 17 Uhr: »Bloch im Bahnhof«, Festliches Abschlusskonzert der Jüdischen Woche, chorsinfonisches Konzert mit acht Chören, in der Osthalle des Leipziger Hauptbahnhofes, Willy-Brandt-Platz.

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