IKG

»Ein großer Zusammenhalt«

Yeshaya Brysgal stammt aus Israel und leitet das Jugendzentrum Neschama. Foto: IKG München und Oberbayern

Herr Brysgal, seit einem knappen Jahr leiten Sie das Jugendzentrum Neschama in der IKG. Welche Bilanz können Sie ziehen?
Ich blicke sehr positiv auf die Zeit zurück, trotz aller Herausforderungen. Ich habe die Stelle in einer schwierigen Zeit angetreten, wenige Wochen vor dem 7. Oktober, und es war und ist sehr beeindruckend zu sehen, wie die Kinder und Jugendlichen danach über sich hinausgewachsen sind. Meines Erachtens gibt es in der Gruppe nun einen noch viel stärkeren Zusammenhalt. Unabhängig davon freuen wir uns als Gruppe außerdem über viele neue Mitglieder.

Die jüdische Jugendarbeit ist ein besonderes Arbeitsfeld. Wie sind Sie dazu gekommen?
Das war keine ganz vorhersehbare Entwicklung. Ich bin in Jerusalem aufgewachsen, habe meine Kindheit und Jugend in Jeschiwot verbracht. Mit Anfang 20 habe ich eine Ausbildung zum Immobilienmakler gemacht und in Jerusalem ein kleines Unternehmen aufgebaut. Dann traf ich meine heutige Frau, die gerade einen Postdoc machte. Als sie dann eine Stelle in München bekam, wurden alle meine Zukunftspläne durcheinandergewirbelt. Ich habe auch hier zunächst im Immobilienbereich gearbeitet. Aber als ich die Ausschreibung für die Leitung des Jugendzentrums gesehen habe, wusste ich: Das will ich machen, das ist eine sinnvolle Arbeit, die zu mir, meinem Hintergrund und meinen Stärken passt. Zum Glück hat die Kultusgemeinde es anscheinend ähnlich gesehen. Die Arbeit mit Menschen im Kontext jüdischen Lebens ist der rote Faden in meinen ganzen bisherigen Werdegang. Meine Lehrer und meine Kommilitonen haben mich während meiner Studienzeit intensiv geprägt, das gemeinsame Vorbereiten von Feierlichkeiten und Events war charakterbildend. Die jüdische Gemeinschaft ist für mich eine Quelle der Kraft, Motivation und Freude. Als Leiter des Jugendzentrums Neschama bemühe ich mich, dieses Lebensgefühl im Rahmen unserer Aktivitäten weiterzugeben, um jüdischen Kindern und Jugendlichen dieses lebenslange Gefühl von Gemeinschaft zu vermitteln.

Was war bei Neschama zu Beginn Ihre größte Aufgabe? Was hat Sie im vergangenen Jahr am meisten gefordert?
Die größte Herausforderung war es zunächst einmal, einen vertrauensvollen Raum für Jugendliche mit allen denkbaren verschiedenen Hintergründen zu schaffen, um auf diese Weise eine Verbindung zwischen ihnen, den Madrichim und mir aufzubauen. Das hat super geklappt, nicht zuletzt dank der wirklich großartigen und engagierten Madrichim und Madrichot.

Worauf sind Sie besonders stolz?
Auf den Zusammenhalt im Team! Kinder und Jugendliche, die auf unterschiedliche Schulen gehen, unterschiedliche Hintergründe haben und ihre Jüdischkeit unterschiedlich verstehen, haben bei Neschama Freundschaften geknüpft, die auf mich wirken, als könnten sie ein Leben lang halten.

Was sind die Stärken – und die Schwächen – von Neschama? Wo muss sich noch mehr tun? Was zeichnet dieses Jugendzentrum aus?
Was ich an unserer Gruppe am meisten schätze, ist die Ehrlichkeit der Kinder und Jugendlichen. Wenn es Uneinigkeiten gibt – und die gibt es bei uns natürlich, genau wie überall sonst –, dann werden diese sehr schnell und sehr offen angesprochen und gemeinsam eine Lösung erarbeitet. Das ist für den Zusammenhalt der Gruppe wichtig und hilft, eventuelle »Schwächen« schnell zu überwinden. Außerdem zeichnet sich Neschama durch einen großen Zusammenhalt aus, den ich mir aber keineswegs selbst auf die Fahne schreiben möchte. Er bestand schon, als ich die Stelle angetreten habe.

Welche Auswirkungen hatte der 7. Oktober auf Neschama? Wie haben Sie mit den Jugendlichen reagiert?
Natürlich haben dieser Tag und seine Folgen unsere Arbeit im Jugendzentrum stark geprägt und auch verändert. Zu Beginn haben wir darüber debattiert, wie wir als Jugendzentrum nach diesem unfassbaren Massaker weitermachen können und sollen. Das Jugendzentrum ist ja eigentlich ein Ort für Spaß und gemeinsame Freizeit. Das schien uns nach dem 7. Oktober als alleiniger Daseinsgrund von Neschama nicht mehr ausreichend. Daher haben wir uns gemeinsam dafür entschieden, uns auch in unseren Aktivitäten mit den Auswirkungen dieses Tages zu befassen. Zum Beispiel haben die Kinder und Jugendlichen am Mitzvah Day eine große Menge ihrer eigenen Spielsachen von zu Hause mitgebracht, in Päckchen verpackt und zusammen mit persönlichen Briefen an die Kinder aus den israelischen Ortschaften an der Grenze zu Gaza geschickt. Und natürlich haben wir alle Familien, die zeitweise aus Israel nach München geflüchtet waren, besonders willkommen geheißen und die Kinder in die Gruppen von Neschama integriert.

Vor welchen Herausforderungen sehen Sie die jüdische Jugendarbeit in Zukunft – in München und allgemein?
Ich denke, alle jüdischen Gemeinden und somit auch wir in München stehen vor einer riesigen gesellschaftlichen Herausforderung, nämlich dem stark wachsenden Antisemitismus. Diese neue Lage ist schon für uns Erwachsene schwierig. Aber für Kinder und Jugendliche ist es oft völlig unerklärlich, dass sie allein aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit kritisiert oder gar angegriffen werden, und dass jüdischen Menschen vermeintliche Verfehlungen Israels angelastet werden. Deshalb planen wir für Neschama eine politische Diskussionsgruppe für Kinder ab zwölf Jahren, in der aktuelle Themen debattiert werden. Auf diese Weise können interessierte Kinder und Jugendliche erstens lernen, ihre eigenen Meinungen argumentativ zu vertreten. Und zweitens haben sie dann einen Ort, an dem sie all die Dinge, mit denen sie medial ohnehin konfrontiert sind, in einem geschützten Raum zu diskutieren, einzuordnen und zu »verdauen«.

Ein Blick auf die Langzeit-Vision: Wie wird ein von Yeshaya Brysgal geprägtes Jugendzentrum in fünf Jahren aussehen?
Mein erstes Ziel ist es natürlich, dass Ne­schama in München weiter wächst. Alle Kinder und Jugendliche der IKG sollen bei uns ein selbstverständliches zweites Zuhause haben, in dem sie Freundschaften knüpfen und vielfältigen Freizeitaktivitäten nachgehen können. Aber fast genauso wichtig ist mir die überregionale Vernetzung zwischen den Jugendgruppen durch mehr gemeinsame Tätigkeiten. Wir haben ja schon die Jewrovision, bei der Jugendgruppen aus ganz Deutschland gegeneinander antreten, und auch überregionale Sportturniere. Ich möchte noch weitere bundesweite Aktionen anstoßen und habe dazu auch schon einige Ideen. In fünf Jahren sollen deshalb sowohl Neschama in München als auch das überregionale Netzwerk der jüdischen Jugend deutlich größer sein als heute. Denn: Je mehr und je weiter sich jüdische Freundschaften in Deutschland erstrecken, desto besser!

Mit dem Leiter des Jugendzentrums Neschama der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern sprach Leo Grudenberg.

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