Die Wurzeln eines großen israelischen Dichters liegen in Würzburg: Jehuda Amichai (1924–2000) wurde als Sohn eines Kaufmanns in der Stadt in Unterfranken geboren; damals hieß er Ludwig Pfeuffer. 1935 floh er mit seiner Familie vor den Nationalsozialisten in das damalige Palästina und nahm den Namen Jehuda Amichai (übersetzt: Mein Volk lebt) an, unter dem er ein international bekannter Lyriker wurde. Seine Gedichte sind heute in mehr als 40 Sprachen übersetzt.
Neben unzähligen Gedichten schrieb Amichai jedoch nur einen einzigen Roman. Nicht von jetzt, nicht von hier erschien 1963 in Israel und war eines der ersten Bücher, die die seelischen Probleme der Schoa-Überlebenden in der israelischen Gesellschaft thematisierten. Joel, der Held des Romans, setzt sich mit seinem Leben in Jerusalem und mit seiner Kindheit in der Stadt »Weinburg«, wie Würzburg in dem Roman heißt, auseinander. Amichai schrieb das Buch, nachdem er Würzburg im Jahr 1959 besucht hatte.
Programm Der Roman steht in diesem Jahr im Mittelpunkt der jährlich stattfindenden Aktion »Würzburg liest ein Buch«. Zahlreiche Ausstellungen, Vorträge, Theaterstücke, Filme, Lesungen und Diskussionen in der Stadt und im Umkreis widmen sich jedoch nicht nur dem Roman, sondern auch dem Leben und Werk Amichais generell. An der zentralen Aktionswoche nehmen auch Hana Amichai, die Frau des vor 18 Jahren verstorbenen Dichters, und ihre zwei Kinder Emanuella und David teil und ergänzen sie um eigene Beiträge.
Wie es sich im Roman und in den Gedichten Jehuda Amichais immer wieder zeige, sei Schreiben für ihn auch eine Art Therapie gewesen, betonte Hana Amichai bei der Eröffnung der Aktionswoche in der Würzburger Stadtbücherei. »Es half ihm, über Dinge hinwegzukommen«, sagte die 80-Jährige. Jehuda habe für die Menschen und für den Frieden geschrieben. »Insofern war er ein politischer, aber nicht ein parteipolitischer Mensch.«
Zu Lebzeiten hatte der Schriftsteller Würzburg mehrmals besucht, auch gemeinsam mit seiner Frau Hana und den Kindern. Emanuella Amichai erinnert sich, dass ihr Vater viel mit ihr gelaufen ist. Die 40-Jährige leitet heute ein Theater in Tel Aviv. David Amichai, fünf Jahre älter als seine Schwester, erzählt, dass sein Vater von seinen Besuchen aus Würzburg gern Frankenwein mitbrachte und einmal auch Spargel, den er mit Kartoffeln zubereitete. Jehuda Amichai habe sich immer wieder mit seinem Herkunftsort auseinandergesetzt. Bis heute pflegt die Familie freundschaftliche Kontakte nach Würzburg.
Gedichte Am vergangenen Sonntag lasen Hana, Emanuella und David Amichai im Theater am Neunerplatz, einer kleinen Würzburger Bühne, auf Englisch und Hebräisch Gedichte des Autors vor. Dabei erinnerte Hana Amichai daran, dass der Roman und manche Gedichte ihres verstorbenen Mannes durchaus auch Kritik ernteten. Denn während in Israel nach der Staatsgründung 1948 oft ein Geist des Nach-Vorne-Schauens, des eisernen Aufbauwillens gewünscht war, wurden Lyrik und Prosa, die Traumatisierung, Ohnmacht, Schmerz und Leiden an Verlusten und Erlebtem thematisierten, nicht nur geliebt.
»Jehuda hat komplexe Gedanken und Gefühle in wunderbar einfache Sätze kleiden können«, sagt Hana Amichai über ihren Mann. Als Beispiel nennt sie den Satz aus einem Gedicht: »Ich will in meinem Bett sterben.« Er sei Ausdruck einer Angst, als Opfer von Krieg und Terror das Leben zu verlieren.
Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden und Vorsitzender der Israelitischen Kultusgemeinde Würzburg und Unterfranken, kennt die Beschreibungen Würzburgs im Roman aus seiner eigenen Kindheit in der Stadt. »Das Buch erzählt von den Empfindungen vieler jüdischer Emigrierter damals: Israel war Heimat geworden, aber die Wurzeln zur ersten Heimat ließen sich nicht ganz kappen.« Das Würzburger Gemeinde- und Kulturzentrum Shalom Europa beteiligt sich als Schirmherr und Ausrichter mehrerer Veranstaltungen an der Aktion. Getragen wird sie vor allem von einigen Buchhändlern in Würzburg.
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