Die 91 Jahre sieht man ihr beileibe nicht an. Renee Goddard sitzt im Hubert-Burda-Saal des Jüdischen Gemeindezentrums in der ersten Reihe und muss einen Augenblick lang überlegen, bis ihr das deutsche Wort Gefängnis einfällt. Im »Prison« habe sie ihren Vater Werner Scholem zum letzten Mal gesehen, erinnert sie sich.
Um ihn, den deutschen Antihelden in der Epoche zwischen den beiden Weltkriegen, der im KZ Buchenwald von den Nazis ermordet wurde, drehte sich an diesem Abend in der IKG alles. Die Historikerin Mirjam Zadoff, die in München promoviert wurde und jetzt Professorin für Jüdische Studien an der Indiana University Bloomington ist, stellte ihre Biografie Der rote Hiob über Werner Scholem vor.
ambivalent Renee, oder Renate, wie die jüngere seiner beiden Töchter eigentlich heißt, war zusammen mit ihrem Mann Hanno Fry eigens aus dem Süden Englands nach München angereist. »Daran erkennt man«, sagte IKG-Kulturchefin Ellen Presser in ihrer Begrüßung, »wie wichtig das Buch über ihren Vater, den sie nie richtig kennenlernen durfte, für sie ist«. Daran ändert auch die ambivalente Gefühlslage nichts, die ihr Mann offen anspricht: »Wir sind keine Engländer, wir fühlen uns aber auch nicht als Deutsche. Daran hindert uns die Geschichte Deutschlands.«
München, das das Ehepaar vor fünf Jahren zum letzten Mal besuchte, genießt dessen ungeachtet für beide einen besonderen Stellenwert. Hier haben sie nach dem Holocaust etliche Jahre ihres Lebens verbracht. Hanno Fry arbeitete in den 70er- und 80er-Jahren in der Raumfahrtindustrie. Die schlechten Arbeitsmöglichkeiten in Großbritannien trieben ihn nach München. »Ich wusste wirklich nicht, ob ich mit dieser Situation jemals zurechtkommen werde, ob ich einen Tag, eine Woche oder einen Monat bleiben würde. Am Ende wurden es 18 Jahre«, erinnerte er sich an diesen Schritt.
Zu der bayerischen Metropole haben er und seine Frau inzwischen längst ein entspanntes Verhältnis. »Wir werden ein paar Freunde besuchen, ein bisschen shoppen gehen, ein paar unbeschwerte Tage genießen«, beschrieben sie nach dem Abend im Gemeindezentrum ihr Programm. Dazu zählte natürlich auch ein Besuch der Synagoge am Jakobsplatz.
Zeitzeugen Bei der Aufarbeitung der Lebensgeschichte von Renee Goddards Vater Werner Scholem, der als dritter von vier Söhnen 1895 in eine Berliner jüdische Mittelstandsfamilie geboren wurde, stützt sich Biografin Mirjam Zadoff auf Zeitzeugen und erstmals veröffentlichte Dokumente. »Wie kaum ein anderer«, schreibt die Autorin, »steht Werner Scholem für die inneren Brüche der deutschen Gesellschaft zwischen den beiden Weltkriegen.« Und so handle das Buch nicht allein von ihm, sondern auch von einer ganzen Epoche.
Die innere Zerrissenheit jener Zeit spiegelt sich nahezu in der Familie Scholem wider. Die vier Söhne von Arthur und Betty Scholem hätten kaum unterschiedlicher sein können. Diese Charakteristik versuchte der Moderator des Abends, Micha Brumlik, emeritierter Professor am Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt und seit dem vergangenen Jahr Senior-Professor am Zentrum für Jüdische Studien Berlin-Brandenburg, zusammen mit Buchautorin Mirjam Zadoff zu enträtseln.
Die endgültige Antwort auf die ideologische Bandbreite der Familie, die von deutschnational bis trotzkistisch reichte, blieb zum Teil offen. Klar wurde, dass Werner Scholem, kommunistischer Abgeordneter, Jude und Intellektueller, ein Feindbild für die Nazis darstellte. Nachdem Hitler 1933 die Macht ergriffen hatte, kam Scholem sofort ins Gefängnis, später in verschiedene Konzentrationslager, und war heftigsten Repressalien ausgesetzt.
Utopie Mirjam Zadoff, die Werner Scholem als einen »besonders tragischen Verlierer der Geschichte« bezeichnete, brachte zum Ausdruck, dass man sich heute nicht mehr sehr gerne daran erinnere, dass Juden, zumindest in der Anfangszeit der Weimarer Republik, in der Kommunistischen Partei zahlenmäßig überrepräsentiert waren. Sehr schnell seien dann aber auch sie »hinausgesäubert« worden. Zu diesem Zeitpunkt, so die Buchautorin, habe der Pazifist Werner Scholem, für den seine Teilnahme am Ersten Weltkrieg ein apokalyptisches Erlebnis gewesen sei, erkennen müssen, dass sein Traum von der politischen Neuordnung Europas eine Utopie war.
Werner Scholem bekam keine Chance, Deutschland zu verlassen. Immerhin gelang dies seiner nichtjüdischen Frau Emmy – sie war übrigens der Grund für ein vollständiges Zerwürfnis mit seinem Vater und den beiden Töchtern – noch rechtzeitig vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs und der systematischen Ermordung der Juden. In England begann ihr neues, zunächst mehr als beschwerliches Leben. Renee Goddard, die die Buchvorstellung und die Diskussion im Gemeindezentrum voller Aufmerksamkeit und Ergriffenheit verfolgte, wurde eine bekannte Schauspielerin.
Mirjam Zadoff schrieb dazu in ihrem Buch: »Das Talent lag in der Familie, nicht nur ihr Vater war ein großer Redner gewesen, auch ihr Onkel war für seine theatralischen Performances als Vortragender berühmt.« Viermal war Renee Goddard verheiratet. Der Regisseur und Theaterintendant Peter Zadek gehörte zu ihren engen Freunden. Und sogar eine ihrer beiden Töchter aus zweiter Ehe, Leonie Mellinger, war nach München gekommen, um mehr über ihren berühmten Großvater zu erfahren.