Im Scheinwerferlicht wollte er nie stehen, und doch kennt ihn fast die ganze Stadt. Siegmund Rotstein, der am kommenden Montag 90 Jahre alt wird, ist Ehrenbürger von Chemnitz und der Stadt sehr verbunden. Das hätte auch ganz anders kommen können, denn als 13-Jähriger sah er, der Sprössling einer deutsch-polnisch-jüdischen Familie, die große Synagoge in Flammen aufgehen. Sein Vater starb in einem Ghetto in Polen, Rotstein selbst überlebte mit Glück das KZ Theresienstadt.
Mehr als 3000 Mitglieder zählte die Chemnitzer Gemeinde vor 1933, fast alle wurden von den Nazis vertrieben oder ermordet. Doch schon im Sommer 1945 gründeten 47 Frauen und Männer die Gemeinde neu. Siegmund Rotstein war einer von ihnen. Endlich konnte der junge Mann auch eine Berufsausbildung absolvieren, er wurde Herrenschneider und arbeitete später im Handel.
Jüdische Gemeinde Rotstein und seine Frau Marianne richten sich in der sächsischen Industriestadt, 1953 zwangsweise in Karl-Marx-Stadt umbenannt, auf Dauer ein. Die jüdische Gemeinde wird zu einem Ort des Rückzugs und der Selbstvergewisserung, auch wenn die Mitgliederzahl sich stetig verringert. Rotstein steht für Kontinuität, Umsicht und Beharrlichkeit. 1966 wählt ihn die Gemeinde erstmals zum Vorsitzenden, und das bleibt er 40 Jahre lang.
Irgendwann in den 80er-Jahren fragen ihn Freunde, warum er die Gemeinde, die nur noch ein Dutzend Mitglieder zählt, nicht schließen wolle. »Vielleicht warte ich ja auf ein Wunder«, soll er in einer Mischung aus Trotz und Ironie geantwortet haben. Kurze Zeit später passiert tatsächlich Wundersames: die Ankunft Hunderter Juden aus der sich auflösenden Sowjetunion sichert einen dynamischen Neubeginn. Als Siegmund Rotstein 2006, mit 81 Jahren, schließlich den Vorsitz abgibt, zählt »seine« Gemeinde mehr als 600 neue Mitglieder, darunter viele junge Familien. Heute hat Chemnitz wieder einen jüdischen Kindergarten, zahlreiche jüdische Vereine und seit 2015 mit Jakov Pertsovsky einen eigenen Rabbiner.
Zuwanderung Mit dem früheren Chemnitzer Oberbürgermeister Peter Seifert (SPD) hatte Rotstein bis 2002 auch den Bau einer modernen Synagoge mit Gemeindezentrum durchgekämpft. Ruth Röcher, die heutige Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Chemnitz, verweist noch auf ganz andere Qualitäten und Erfolge: »Siegmund Rotstein hat die Zuwanderung aus der GUS als Chance begriffen, aber er hat auch jene Familien sehr respektvoll behandelt, in denen nur ein Teil jüdischer Herkunft ist.« Und schließlich habe Rotstein auch alles Erdenkliche für den Erhalt, die Sanierung und die Erforschung des alten jüdischen Friedhofes getan. »Von hier aus konnten wir die Gesamtgeschichte unserer Gemeinde rekonstruieren«, freut sich Röcher.
Von einem Ort des Rückzugs und des Überlebenskampfs ist die Jüdische Gemeinde Chemnitz längst wieder zu einem lebendigen, weltoffenen Haus geworden. Solch eine rasante Entwicklung wäre kaum denkbar gewesen ohne Siegmund Rotstein, den beharrlichen Optimisten. Mazel tov, bis 120!