Porträt der Woche

Durstig nach Wissen

Samuel Vingron hat in Heidelberg studiert und will jetzt Rabbiner werden

von Christine Schmitt  04.09.2019 12:32 Uhr

»Ich habe mehrere Familien: meine Ursprungsfamilie natürlich, aber auch die Gemeinde und die Synagoge«: Samuel Vingron (23) kommt aus Berlin. Foto: Gregor Zielke

Samuel Vingron hat in Heidelberg studiert und will jetzt Rabbiner werden

von Christine Schmitt  04.09.2019 12:32 Uhr

Wenn ich am Nollendorfplatz in Berlin-Schöneberg einen Kaffee trinke oder durch die Straßen gehe, dann begegnen mir vollkommen unterschiedliche Menschen. Hier spüre ich immer ein Gefühl von Freiheit. Wegen seiner Vielfalt nenne ich diesen Kiez auch gerne »Little San Francisco«. Das ist für mich Berlin.

Heimat Aber die Stadt ist für mich auch ein Ort, der aus der Geschichte gelernt hat und sich nun weltoffen, modern, multikulti präsentiert. Kurz gesagt: Berlin ist meine Heimat.Diese werde ich nun verlassen, um am Jewish Theological Seminary, dem Jüdischen Theologischen Seminar in New York, eine Ausbildung zum Rabbiner zu absolvieren. Gleichzeitig werde ich dort auch einen wissenschaftlichen Master erwerben.

Auf mein Studium in New York freue ich mich sehr. Ich lerne jetzt schon viel, vor allem in den vergangenen Jahren, als ich in Heidelberg an der Hochschule für Jüdische Studien (HfJS) studierte. An der HfJS schrieb ich meine Bachelorarbeit in Jüdischer Religionslehre. Zudem studierte ich dort Geschichte. Dabei frage ich mich täglich: Wie viele Stunden Zeit habe ich, um zu schlafen, ohne mein Lernpensum einzuschränken? Das Judentum ist komplex, und ich habe Durst und Hunger nach Wissen.

Als ich 13 war, fand ich heraus, dass ich mein Leben andern Menschen und der Religion widmen möchte.

Als ich 13 Jahre alt war, hatte ich mehrere Erkenntnisse. Da war zum Beispiel der Sommerurlaub in Südfrankreich mit meinen Eltern und meiner Schwester. Ich habe schon immer zu viel nachgedacht, aber in diesen Wochen überlegte ich noch mehr als sonst, was ich mit meinem Leben anfangen möchte. Und ich fand heraus, dass ich es anderen Menschen und der Religion widmen möchte. Ein Rabbiner spendet Trost und motiviert seine Gemeinde, für eine bessere Welt zu kämpfen. Gleichzeitig interessiere ich mich für den Beruf des Religionslehrers. Beide Berufe ziehen mich gleich stark an.

SYNAGOGE In diesem Alter machte ich eine weitere Entdeckung. Es war die Zeit meines Barmizwa-Unterrichts, den ich damals bei den beiden Kantoren unserer Synagoge, Simon Zkorenblut und Isaac Sheffer, hatte. Meine Eltern würde ich eigentlich mehr als Kulturjuden beschreiben, wir besuchten die Synagoge zu den Hohen Feiertagen und am Schabbat. Seit Jahren ist mein Vater Gabbai in der Synagoge Pestalozzistraße.

Während des Unterrichts habe ich dann über die regelmäßigen Synagogenbesuche hinaus gespürt, dass ich mehrere Familien habe: meine Ursprungsfamilie natürlich, aber auch die Gemeinde und die Schule. Meine vier Säulen sind zunächst natürlich meine Eltern, aber auch meine Zeit in der Grundschule, im Gymnasium und in der Synagoge.

Nach der Heinz-Galinski-Schule besuchte ich das Jüdische Gymnasium Moses Mendelssohn. Bei beiden hatte ich das Glück, auf wunderbare und fähige Religionslehrer zu treffen.

In Israel lebte ich fünf Monate im Kibbuz. Doch in der Stadt gefiel es mir besser.

Mein Schulpraktikum in der neunten Klasse absolvierte ich bei Rabbiner Tuvia Ben Chorin, der damals in der Synagoge Pestalozzistraße amtierte. Sein Charisma und sein Wirken haben mich ebenfalls sehr beeindruckt. Jüngst habe ich ihn in Heidelberg getroffen und ihm von meinen Plänen berichtet, was ihn sehr erfreut hat.

ISRAEL Mit dem Abitur in der Tasche verließ ich Berlin und brach für neuneinhalb Monate nach Israel auf, wo ich fünf Monate im Kibbuz lebte und anschließend knapp fünf Monate in Tel Aviv. Dort arbeitete ich mit körperlich und geistig behinderten Menschen in einem Sportzentrum.

In diesen Monaten wohnte ich in einer Wohngemeinschaft, meine Mitbewohner kamen aus Panama, Brasilien, und Ungarn. Außerdem lebten in dem Haus noch Inder und Südafrikaner – das hat mir die Augen geöffnet, dass das Judentum nicht nur aus Deutschen oder Russen besteht, sondern international ist.

Der Kibbuz hingegen hat mich nicht so beeindruckt. Er liegt ziemlich abgeschottet, und meine Arbeit war es, Orangen zu pflücken. Da gefiel es mir mehr, hin und wieder aus dem Alltagsstress herauszukommen. Aber was ich auch dabei festgestellt habe: Israel ist so vielfältig, dass ich immer neue Seiten an dem Land entdecke.

OFFENHEIT Nun ist meine Bachelor­arbeit gerade aus dem Drucker gekommen, und ich muss sie nur noch abgeben. Meine Zeit in Heidelberg hat mir viel gebracht, denn ich hatte dort die Möglichkeit, meine eigenen Studien­interessen sehr intensiv zu verfolgen, in einer sehr angenehmen und fördernden Atmosphäre.

Während des Studiums war ich noch einmal in Israel, diesmal für ein Universitätssemester. Jerusalem empfand ich als komplett andere Welt, was mir sehr zu denken gab und gibt. Als nicht-orthodoxer Jude fühlte ich mich in der Minderheit, was ich wiederum spannend fand.

Mein Wunsch ist es, dass alle Strömungen im Judentum miteinander im Gespräch bleiben.

Ich mache mir Sorgen um das Judentum. Es gibt so viele verschiedene Strömungen und Richtungen, und ich finde, dass nicht mehr richtig miteinander gesprochen wird.
Ich möchte offen sein und mit allen in Kontakt kommen, weshalb ich auch Mitglieder des charedischen Judentums besuchte und in Jerusalem auch ins ultra-orthodoxe Viertel Mea Schearim ging.

Ich habe versucht, einen Weg zu finden, wie ich mit Charedim ins Gespräch kommen kann, dass sie mich akzeptieren, ohne dass ich mich verbiegen muss.

SORGE Wohin steuert das Judentum in Israel? Das frage ich mich. Denn wenn die säkularen Israelis weiter das Land verlassen, werden die sogenannten Nationalreligiösen zahlenmäßig immer stärker. Und das wird auch die Religion verändern. Das beunruhigt mich.

Als ich anschließend wieder nach Heidelberg zurückkehrte, mit all diesen Eindrücken und Gedanken im Gepäck, erwachte mit der Zeit der Wunsch in mir, nach New York zu gehen, um dort am Jewish Theological Seminary noch weiter lernen zu können.

Das Bewerbungsverfahren zog sich über drei Monate hin. Ich musste mehrere Aufsätze schreiben und Tests absolvieren. Es wurden auch viele Interviews mit mir geführt, kurz: Es forderte mich heraus. Dann erhielt ich die Antwort, dass ich einen Studien­platz bekomme. Ich habe mich riesig gefreut.

Mehr als 40 Professoren lehren dort. Das Institut verfügt über die größte Judaika-Sammlung außerhalb Israels, außerdem gibt es zehn verschiedene wissenschaftliche Abteilungen – also viele Inhalte für mich, die ich nun alle aufsaugen kann.

Als zukünftiger Rabbiner möchte ich später Rhythmen in den Gottesdienst einbauen. Das bringt die Menschen zusammen.

Das Seminar gilt als das Aushängeschild der konservativen Richtung. Vorläufer war das Jüdisch-Theologische Seminar in Breslau, die erste akademische Ausbildungsstätte für Rabbiner in Deutschland. Heinrich Graetz (1817–1891), der jüdische Historiker, der auch in Breslau lebte und wirkte – das hatte ich mir als Thema für meine Bachelorarbeit ausgewählt. Seine Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart habe ich regelrecht verschlungen.

RHYTHMUS Aber ich liebe es nicht nur, Wissen aufzusaugen, sondern ich mag auch Musik, vor allem Hip-Hop, allerdings nicht den Gangster-Hip-Hop. Wenn ich Zeit habe, schreibe ich Texte zu den Rhythmen und Melodien. Inhaltlich greife ich dabei gerne meinen Alltag auf und setze mich mit meiner jüdischen Identität auseinander.

Bücher lese ich nur, wenn der Inhalt für mich interessant ist, aus Spaß und Vergnügen schlage ich keines auf. Aber ich liebe Kino, wobei ich es auch nur einmal im Jahr schaffe, mir einen Film anzusehen. Dabei am liebsten biografische Filme wie kürzlich den Streifen über den Maler Vincent van Gogh.

Ich kann mir gut vorstellen, nach meinen Studien wieder nach Berlin zurückzukehren. Schlagzeug spielen und Trommeln habe ich auch gelernt, und mir ist noch gut in Erinnerung, wie ich in der Grundschule die zwölf Stämme Israels gelernt habe – nämlich mit einer begleitenden Trommel, was die Sache erleichterte. So konnte ich mir die Stämme besser merken.

Es ist gut möglich, dass ich später in den Gottesdiensten viele Rhythmen einbaue: Das belebt alle Menschen und bringt die Leute zusammen – genau das ist mein Ziel als zukünftiger Rabbiner.

Aufgezeichnet von Christine Schmitt

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