Herr Rabbiner Sievers, seit einem halben Jahr amtieren Sie als liberaler Gemeinderabbiner in Berlin. In welchem Moment dachten Sie: Jetzt bin ich angekommen?
Das kann ich nicht an einem bestimmten Zeitpunkt festmachen. Es war eher ein Prozess – zumal ich Berlin und auch die Synagoge schon kannte und immer gemocht habe. In meinem ersten halben Jahr habe ich mich bemüht, für die Leute da zu sein, so gut das eben geht – im Gottesdienst, bei Bar- und Batmizwa-Feiern, Hochzeiten und Beerdigungen. Wenn man dann Rückmeldung bekommt und merkt, dass die Leute einem zuhören und wohlwollend entgegentreten, dann fühlt man sich in der Gemeinde angenommen. Das spürt man ja: Man legt die Nervosität allmählich ab und wird vertrauter mit dem Ritus – das merkt man nicht nur selbst, das merken auch die Beterinnen und Beter. Insofern, glaube ich, bedingt sich das Ankommen wechselseitig.
Was macht diese Synagoge für Sie so besonders?
Ganz klar: der Minhag und die Musik. Beide sind einzigartig in Deutschland – auch deshalb, weil die Synagoge die Tradition von Louis Lewandowski pflegt, und das mit einem gewissen Stolz. Ich mag den Ritus, die Musik finde ich großartig. Wenn man zum Beispiel merkt, dass zu Elul ein anderes Lecha Dodi gesungen wird als in der Omerzeit – das kann natürlich auch in jeder anderen Synagoge der Fall sein –, dann ist das schon sehr speziell.
Worin unterscheiden sich die Herausforderungen in Niedersachsen und Berlin?
Zum einen ist die Dimension in Berlin eine andere – die Auswahl an Synagogen ist einfach größer. In Niedersachsen war ich hauptsächlich für die kleineren Gemeinden zuständig, da lernt man auch viel, etwa, wie Gemeinden strukturiert sind. Zum anderen bringt eine einzelne Synagoge eine Kontinuität mit sich: Wir haben eine beträchtliche Anzahl an Bar- und Batmizwa-Kindern, denen ich sagen kann, dass in dieser Synagoge schon ihre Mütter, und in manchen Fällen sogar die Großmütter, an Kabbalat Schabbat die Tafel Schokolade bekommen haben.
Was finden Beter in der Synagoge Pestalozzistraße, das es nur dort gibt?
Man geht ja in die Synagoge, weil man sich aus religiösen, aber auch aus sozialen Gründen mit der Tradition identifiziert. Regelmäßige Synagogenbesuche sind ein probates Mittel, um sich mit der Tradition, mit der Ewigkeit, mit Gott zu verbinden – und da hat man dann eben in Berlin die Möglichkeit, verschiedene Wege dorthin zu finden. Zu uns sollte man kommen, weil wir einfach eine angenehme Atmosphäre haben, einen großartigen Ritus. Teil dieser Tradition zu sein, und eine gläubige, wirklich nette und entspannte Beterschaft – das sind doch schon gute Gründe.
Wie stellen Sie sich auf die russischsprachige Beterschaft ein – wie wollen Sie diese Beter für die Pestalozzistraße, aber auch für die Gemeinde, gewinnen?
Zum einen halten wir Gebetbücher in russischer Übersetzung und mit kyrillischer Transliteration bereit, die wir unseren russischsprachigen Betern zur Verfügung stellen. Zum anderen versuche ich, Klubs der russischsprachigen Gemeindemitglieder zu besuchen. So war ich etwa bei der Veranstaltung zum Tag des Sieges am 9. Mai dabei. Es ist aus meiner Sicht einfach wichtig, allen Betern, egal woher sie kommen, mit Interesse zu begegnen. Das habe ich schon zu meiner niedersächsischen Zeit so gehalten, wo ich einige Gemeinden betreute, die ausschließlich aus Zuwanderern bestanden.
Ihr Vorgänger, Rabbiner Tovia Ben Chorin, hat sich sowohl für jüdische Gelehrsamkeit engagiert als auch für interreligiösen Dialog. Welche Akzente wollen Sie setzen?
Als Landesrabbiner war ich aktiv im interreligiösen Dialog – das bleibt immer ein Teil meiner Arbeit. Aber im ersten halben Jahr meiner Tätigkeit lag der Fokus für mich natürlich zunächst einmal darauf, die Gemeinde und ihre Institutionen sowie die Synagoge und die Beter kennenzulernen. Es hilft ja nichts, wenn ich am Anfang überall bin, aber meine Gemeinde nicht kenne. Mein Ziel – und meine vorderste Loyalität – liegt darin, für die Mitglieder der Jüdischen Gemeinde zu Berlin da zu sein – im Besonderen für die Beter in der Pestalozzistraße. Und dann gehört es natürlich zu meinen Aufgaben als Gemeinderabbiner dazu, die Gemeinde und die jüdische Perspektive zu repräsentieren, auch im interreligiösen Dialog, so wie ich das vorher in Niedersachsen ebenfalls getan habe.
Die Gemeinden in Deutschland werden immer älter, auch in Berlin. Wie wollen Sie Synagoge und Gemeindeleben auch für jüngere Generationen attraktiver gestalten?
Natürlich versuchen wir, die jungen Leute, unseren Nachwuchs, im Laufe der Zeit an uns zu binden, und zwar in einer Weise, dass sie stolz sind, froh sind und sich gern daran erinnern, wie sie bei uns ihre Bar- oder Batmizwa gefeiert haben oder aktiv waren. In Berlin haben wir das Glück, dass es durch die schiere Attraktivität der Stadt hier niemals Nachwuchsprobleme geben wird, weil immer junge Juden nach Berlin ziehen werden.
Das heißt noch nicht, dass sie auch alle in die Synagoge gehen.
Das ist richtig. Man muss es eben versuchen. Das Schöne ist, dass wir innerhalb der Gemeinde verschiedene Zugänge haben: verschiedene Deckel und Töpfe, die zueinanderfinden. Dennoch, eine gewisse Bereitschaft zur Suche sollte man schon mitbringen. In der Pestalozzistraße haben wir das Glück, dass im Jahr viele Kinder ihre Bar- oder Batmizwa feiern wollen – und zu jedem dieser Kinder gehören Eltern, Großeltern, Geschwister. Die Familien binden wir mit ein. Aber ich bin ja erst ein halbes Jahr hier, da braucht man etwas Geduld und muss dranbleiben.
Welche Werte wollen Sie dem Nachwuchs vermitteln, um Religion auch im Alltag lebbar zu machen?
Werte, für die das Judentum steht: Gerechtigkeit, Tikkun Olam, die Verbesserung der Welt. Dabei sollten wir vor allem in uns selbst schauen und auf unsere jüdische Gemeinschaft, aber auch auf die Gesamtgesellschaft, in der wir leben und auf die wir hinauswirken. Ich möchte den Kindern und Jugendlichen unsere jüdischen Werte vermitteln, als Fundament, mit dem sie für gesellschaftlichen Frieden und Gerechtigkeit eintreten können. Das ist die eine Sache. Das andere, was ich gern erreichen möchte, ist, dass sie stolz sind auf ihre Identität, auf ihre Tradition, sodass sie auch eine Verpflichtung erkennen, diese Tradition weiterzugeben und sich daran abzuarbeiten, das heißt: mit ihr zu arbeiten.
Wie könnte das zum Beispiel aussehen?
Das kann ja offen sein. Wer weiß, wohin die Kinder innerhalb des jüdischen Spektrums gehen? Ich bin froh, wenn sie später jüdisch aktiv bleiben – und das auf verschiedene Weise geschieht. Das ist vielleicht nicht unbedingt ein Wert für die Gesellschaft, aber es ist ein Wert für uns: unsere Tradition aufrechtzuerhalten, in welcher Form auch immer. Dazu gehören Schabbat und Kaschrut ebenso wie die Liebe zum Nächsten, an Rosch Haschana in sich zu gehen, vor Jom Kippur Gericht zu halten mit sich selbst und sich bei seinem Gegenüber zu entschuldigen oder an Sukkot daran zu erinnern, dass wir auf unserer 40-jährigen Wüstenwanderung in einem Provisorium gelebt haben.
Mit dem Berliner Gemeinderabbiner sprach Katharina Schmidt-Hirschfelder.