Er fiel auf. Unter den Mitgliedern der Jüdischen Gemeinde Schwerin, die mit einem Bus nach Berlin in die Synagoge Rykestraße angereist waren, »war er einer, der über Kenntnisse dessen verfügte, was hier vorne vor sich ging. Das war Oljean Ingster, der ganz dabei war, sich allerdings nicht als Akteur am Gottesdienst beteiligte. Noch nicht, muss man sagen, denn es sollte anders werden.« So erinnert sich Hermann Simon, Beter der Synagoge, an seine erste Begegnung mit Kantor Ingster.
Die liegt nun schon mehr als 50 Jahre zurück. Am vergangenen Wochenende wurde das Amtsjubiläum bei einem Kiddusch gefeiert, was den 88-Jährigen sehr freute. Seine Freundlichkeit, sein Interesse an vielen unterschiedlichen Themen und seine Bescheidenheit hat er sich immer bewahrt. Ingster wirkt ruhig, zurückhaltend, aber selbstbewusst. Und wahrscheinlich ist es ihm zu verdanken, dass aufgrund seiner Zuverlässigkeit und Begeisterung die Gottesdienste über Jahrzehnte immer regelmäßig stattfanden.
Rabbiner Andreas Nachama, dessen Vater Estrongo öfter die Synagoge Rykestraße besuchte, sagt, dass Oljean Ingster die kleine Gemeinde im Osten Berlins zusammengehalten habe.
Anfänge Der Kantor kann sich noch erinnern, wie seine ursprünglich nur auf ein Jahr geplante Tätigkeit begann: Ein Mitglied des Synagogenvorstands fragte ihn, ob er nicht einspringen könne, da Rabbiner Ödön Singer, der für die Gottesdienste extra aus Budapest anreiste, nur ab und zu in der Rykestraße im Einsatz war. »Aber ich muss samstags doch immer arbeiten, war mein erster Gedanke.« Denn Ingster war Abteilungsleiter im Funkwerk Köpenick.
Trotz seiner Bedenken sagte er zu. »Einer muss es ja machen. Und mir kam und kommt zu Hilfe, dass ich ein gutes Gedächtnis habe.« Wenn er einmal eine Melodie hört, dann sei sie in seinem Kopf aufgenommen. »Das war schon immer so.«
Oljean Ingster lernte als Kind Jiddisch und Hebräisch, studierte die Tora – und noch heute legt er großen Wert darauf, während der Gottesdienste aus der Schrift zu lesen. Seit seiner Kindheit ist er sowohl mit der sefardischen als auch mit der aschkenasischen Liturgie vertraut.
Das Problem mit den Samstagen blieb allerdings noch bestehen, sodass Ingster die »versäumte« Arbeitszeit immer in der Woche nachholen musste. Zu den Hohen Feiertagen nahm er sich Urlaub, um amtieren zu können. Erst als sich das Staatssekretariat für Kirchenfragen der DDR einschaltete, wurde es besser. Wenn kein Rabbiner da war, übernahm Ingster damals einige seiner Aufgaben.
Privat Zu seinem Haus in Woltersdorf gehört ein 2000 Quadratmeter großer Garten, in dem Lebensgefährtin Ingrid Eisold »die Chefin« ist, wie er lächelnd sagt. Sein Bereich im Haus sind die Regale. Sie stehen im Keller, in der Diele, im Wohnzimmer und tragen Tausende Bücher: Ingster liest täglich. Dabei beschäftigt ihn überwiegend ein Thema: der Holocaust und seine Folgen. Gerade habe er ein Buch gelesen, in dem der Autor die Hypothese aufstellt, dass Israel an allem schuld sei. »Das finde ich unnötig, und es hat mich sehr traurig gemacht.« Die Schoa lässt ihn nicht los. Lange Zeit mochte er nicht darüber reden, erst vor ein paar Jahren fing er damit an.
Sein Vater hatte eine Fabrik im oberschlesischen Proszowice. Ingsters Mutter arbeitete für ein Unternehmen in der Chemie-Branche. 1939, als Oljean elf Jahre alt war, mussten die Eltern, seine kleine Schwester und er die Heimat verlassen. Sie flohen zu Verwandten nach Krakau. »Dennoch habe ich alle in der Schoa verloren und bin der einzige Überlebende.« Als Ingster 13 Jahre alt war, wurden sie für den Transport in ein Vernichtungslager zusammengetrieben. Oljean wurde von seiner Mutter getrennt und kam nach Rzeszów. Dort musste er in einem Flugmotorenwerk arbeiten, zwölf Stunden täglich. 250 Gramm Brot gab es am Tag und einen dreiviertel Liter Wasser-Suppe. »Der Hunger war unser ständiger Begleiter«, erinnert sich Ingster.
Er überlebte acht Lager. Jede Veränderung bedeutete für ihn eine Verschlimmerung. »Wir hatten teilweise noch nicht einmal mehr Strohsäcke zum Schlafen.« Schließlich kam er zurück aus Sachsenhausen, von wo er im April 1945 mit 1000 anderen KZ-Häftlingen auf den Todesmarsch geschickt wurde.
Befreiung In einem Wald bei Schwerin wurde er von den Amerikanern befreit. Da war er 17 Jahre alt, vollkommen abgemagert und ohne Familie. Allein Wolf-Thadeusz Epstein, ein Zahnarzt, 20 Jahre älter als Oljean und mit ihm zusammen im Lager, war bei ihm. Epstein und er schliefen in einem Stall. Ein Bäcker schenkte ihnen jeden Tag ein halbes Brot.
Nach dem Krieg bekam Epstein das Angebot, eine Zahnarztpraxis in Schwerin zu eröffnen – Oljean Ingster wurde sein Zahnarzthelfer: »Nicht gerade mein Traumjob«, erinnert sich Ingster. Nachmittags besuchte er die Schule, machte seinen Abschluss und studierte später Materialwirtschaft.
Verständigung In Schwerin baute Oljean Ingster die jüdische Gemeinde mit auf. Es gab nur wenige Juden. Fünf Jahre lang gestaltete er dort die Gottesdienste, bis es ihn beruflich nach Köpenick verschlug.
Ingster suchte immer wieder die Abwechslung: So beriet er Regisseure und Schauspieler für Film-Produktionen bei DEFA oder auch die Komische Oper bei Inszenierungen. Ab und zu übernahm er in Filmen Rollen als Kantor und Rabbiner. Nach seiner Verrentung als Abteilungsleiter konnte er nicht nur nach Westdeutschland reisen, sondern sprach auch auf Tagungen.
Kantor Oljean Ingster fand es immer wichtig, sich für Verständigung einzusetzen, weshalb er Vorstandsmitglied der Jüdischen Gemeinde in Ost-Berlin und nach der Wende Mitglied bei der Deutsch-Israelischen Gesellschaft Berlin-Potsdam war.
Dass sich Menschen unterschiedlicher Religionen miteinander austauschen, liegt ihm auch heute noch am Herzen. Sein Spruch fürs Leben lautet: »Man muss das Richtige tun und das andere unterlassen. Ich hatte immer irgendwie einen Schutzengel. Und dadurch blieb ich am Leben.«
Der Berliner Historiker Hermann Simon, der Kantor Ingster vor über 50 Jahren kennenlernte, hofft, dass er sich irgendwann die Zeit nimmt, seine Lebensgeschichte aufzuschreiben.