Lesung

Die Koffer ausgepackt

Freundschaftlich: Rachel Salamander, Charlotte Knobloch und Sigmund Gottlieb bei der Buchpräsentation Foto: Marina Maisel

Ganze acht Jahrzehnte wechselvoller deutsch-jüdischer Geschichte und Gegenwart hat Präsidentin Charlotte Knobloch miterlebt und mitgestaltet. Jetzt hat sie, zusammen mit dem Publizisten Rafael Seligmann, ihre Erinnerungen daran in einem Buch festgehalten. Der Titel In Deutschland angekommen ist zugleich ein Bekenntnis zu ihrem Geburtsland, auch wenn die jüngsten Geschehnisse im politischen Alltag ihr dieses nicht immer leicht machen.

Die Deutsche Verlags-Anstalt, bei der das Buch erschienen ist, das Kulturzentrum der Israelitischen Kultusgemeinde sowie die Literaturhandlung haben die Erinnerungen nun im Gemeindezentrum vorgestellt. Nach einer Einführung der Literaturwissenschaftlerin und Herausgeberin der »Literarischen Welt«, Rachel Salamander, führte Sigmund Gottlieb, Chefredakteur des Bayerischen Fernsehens, ein Podiumsgespräch mit Charlotte Knobloch über ihr Leben.

Die erste Szene, die Gottlieb den Gästen vor Augen rief, führte in die Pogromnacht von 1938. Charlotte Knobloch erinnert sich, wie sie als sechsjähriges Mädchen an der Hand ihres Vaters am 9. November durch München läuft und den Terror gegen Juden unmittelbar erlebt. Noch heute klingt ihr die Mahnung des Vaters im Ohr: »Nicht stehen bleiben!« Die beiden dürfen nicht auffallen.

Schicksalsschläge Gottlieb erinnert auch an eine andere Szene, die der kleinen Charlotte bis heute im Gedächtnis bleiben sollte: Als sie einmal mit ihren Freundinnen spielen wollte, blieben die Gartentore plötzlich verschlossen. Die anderen durften nicht mehr mit der Jüdin zusammen spielen. Was die Lebensgeschichte der Präsidentin betrifft, seien hier auch noch zwei tiefgreifende Schicksalsschläge erwähnt: Ihre Mutter, einst aus Liebe zum Judentum übergetreten, verließ die Familie, als Knobloch vier Jahre alt war. Sigmund Gottlieb brachte den politischen Druck der Nationalsozialisten hier genau auf den Punkt: »Die Angst war stärker als die Liebe.«

Sofort hatte die Großmutter damals zusammen mit dem Vater die Sorge für die kleine Charlotte übernommen. Doch auch hier musste diese einen Verlust erleben. Ausgegeben als das uneheliche Kind einer früheren Hausangestellten ihres Onkels, überlebte sie, getrennt von ihrem Vater, auf einem fränkischen Bauernhof. Der Vater konnte sie von dort nach 1945 wieder nach München zurückbringen. Die Großmutter war in Theresienstadt ums Leben gekommen. Die Stimme der Präsidentin wurde ganz leise, als Gottlieb sie danach fragte, ob sie Details dazu erfahren habe. Julius Spanier sel. A., erster Nachkriegspräsident der IKG, hatte das Leiden ihrer Großmutter miterlebt und der Enkelin davon berichtet.

Doch das Leben ging und musste weitergehen – auch wenn das zunächst nicht in München und nicht in Deutschland sein sollte. Wie viele andere auch wartete die junge Familie Knobloch – Charlotte Neuland hatte inzwischen Samuel Knobloch geheiratet – auf die Möglichkeit der Ausreise in die USA. Die Kinder verzögerten dies, doch die Koffer blieben gepackt, die jüdische Bevölkerung Münchens blieb unter sich: »Man wollte mit der nichtjüdischen Bevölkerung nichts zu tun haben.« Das war eine Form von Selbstschutz. Es gab damals alle Einrichtungen, die man sich für heute wünsche wie ein Jüdisches Gymnasium, eine Jüdische Universität und viele andere Institutionen. Schließlich wollte man die Zeit nutzen, um sich auf das Leben in Amerika oder Israel vorzubereiten.

angekommen Gottlieb erinnerte daran, dass sich das alles geändert hat, als Präsidentin Knobloch 2003 bei der Grundsteinlegung für das Gemeindezentrum am Jakobsplatz davon sprach, dass die sprichwörtlichen Koffer nun ausgepackt seien. Sie war in Deutschland angekommen – eine Tatsache, die ja auch dem Erinnerungsbuch von Charlotte Knobloch den Titel gab.

Die jüdische Gemeinschaft lebt in der nunmehr dritten Generation nach der Schoa in Deutschland. Rückschläge im Zusammenleben mit der nichtjüdischen Bevölkerung hat es immer wieder gegeben, nicht zuletzt gerade zur Grundsteinlegung der Synagoge, als Rechtsradikale ein Bombenattentat geplant hatten. »Wir müssen darüber nachdenken, was sich für unsere Nachkommen ändern kann«, sagt Knobloch und verweist immer wieder auf die Gedanken, die sie im Buch aufgeschrieben hat. Das gilt für das in den letzten Monaten wieder angespannte deutsch-jüdische Verhältnis ebenso wie für das deutsche Verhältnis zu Israel. Gerade das »tut mir weh. Israel hatte einmal sehr viele Freunde, heute nicht mehr. Wir müssen Möglichkeiten finden, dass sich das ändert.« Dabei ist für sie das gegenseitige Kennen- und Verstehen-Lernen außerordentlich wichtig – in Israel wie in Deutschland.

Auf die Frage Gottliebs, inwieweit Kritik an Israel angemessen sei, antwortet Knobloch: »Kritik kann positiv sein, wenn sie sachlich ist, kann sie Veränderungen bringen. Aber was sich hier abspielt, insbesondere mit Nazi-Vergleichen, ist nicht angemessen!« Ihre Einstellung ist optimistisch – und realistisch zugleich: »Israel ist unsere geistige Heimat und braucht Freunde.«

Verantwortung Die Umbrüche seit 1990 haben vieles verändert. Das gilt für die gewachsene jüdische Gemeinschaft in München ebenso wie für das Verhältnis zur nichtjüdischen Umwelt. Wichtig ist hier, dass »die junge Generation, die Verantwortung für die Zukunft ihres Landes übernimmt, sich nicht ständig schuldig fühlt. Aber wir müssen auch dafür sorgen, dass die Dinge nicht in Vergessenheit geraten«.

Ihr Blick in die Zukunft enthält Hoffnung und Skepsis: »Wir haben ein Miteinander, das sich sehr positiv entwickelt hat. Dieses Miteinander kann sich vielleicht in eine Normalität verwandeln, in der wir die Menschen sehen und sie nicht mehr nach Religion oder Herkunft beurteilen. Eine Normalität, in der der Mensch als Mensch im Vordergrund steht. Wie weit das möglich ist ...« – diese Frage lässt Charlotte Knobloch nach 80 Jahren Lebenserfahrung offen.

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