Frau Knobloch, wie wichtig ist das NS-Dokumentationszentrum für München?
Das Kürzel »NS« gefällt mir nicht, weil es die Sprache der Nazis ist, aber letztendlich entscheidend ist es nicht, wenn es um die Aufarbeitung der Geschichte Münchens mit seiner besonderen Rolle als »Hauptstadt der Bewegung« geht. Viel zu lange wurde sie verdrängt. So kommt das Dokumentationszentrum spät, hat Max Mannheimer gesagt, aber nicht zu spät. So ist es.
Das Dokumentationszentrum spiegelt die Rolle der Nazis, der Täter, wider. Kann man einen Nazi, seine Denkweise, verstehen?
Man kann es sich nicht bis in letzter Konsequenz vorstellen, und ich habe große Zweifel, ob das überhaupt möglich ist. Kann man das Unbegreifbare begreifbar machen? Aber es ist richtig, dass mit dem Dokumentationszentrum der Versuch unternommen wird, den Tätern ein Gesicht zu geben. Diffamierung, Entrechtung, Enteignung und auch der Massenmord wurden toleriert, mitgetragen, gebilligt, sogar gefordert und bejubelt. Und zwar von den Leuten, die nur wenige Zeit vorher noch freund- lich gegrüßt und einen angelächelt haben. Es waren keine gesichtslosen Phantome, es waren Menschen wie Sie und ich, aus denen Täter oder Opfer wurden. Diese Geschichte von Menschen, die ihre Menschlichkeit abschalteten, muss das Zentrum erzählen. Es ist nämlich unsere gemeinsame Geschichte.
Das Abschalten von Menschlichkeit haben Sie persönlich als Kind erlebt. Konnten Sie das vergessen, in einer geistigen Schublade verschließen?
Das ist nicht möglich. Ich spüre noch heute die Umarmung meiner geliebten Großmutter, die mich an sich drückt und mir erklärt, dass sie auf eine »Reise« gehe, auf die ich sie nicht begleiten könne. Die Nazis haben sie ermordet – und sechs Millionen europäische Juden. Die Trauer, die sich in meine Seele eingebrannt hat, ist unauslöschlich.
Das Dokumentationszentrum zieht erstaunlich viele junge Menschen an, für die der Nationalsozialismus zeitlich in weiter Ferne liegt …
… aber nicht, was Unterdrückung, Antisemitismus und Rassismus anbelangt. Da gibt es genügend aktuelle Krisenherde, auch direkt vor unserer Haustür. Junge Menschen registrieren das sehr genau. Und sie sollten erkennen, dass die Mechanismen, die Rassismus, Antisemitismus und Unterdrückung auslösen, vom gleichen Strickmuster sind, derer sich die Nazis bedient haben.
Dann ist der Besuch des Dokumentationszentrums sozusagen geistige Schwerarbeit?
Das Zentrum, das von Gästen aus aller Welt besucht wird, bietet auch die Gelegenheit, dass sich Menschen einfach als Menschen begegnen und eine gemeinsame emotionale Ebene finden und sich gemeinsam dafür verantwortlich fühlen, was rings herum in der Welt geschieht. Nicht umsonst hat Winston Churchill einmal gesagt: »Der Preis der Größe heißt Verantwortung.« Und diesen Preis sollten selbstverständlich auch wir bezahlen.
Mit der IKG-Präsidentin sprach Helmut Reister.