Mit 88 Jahren geht Ruth Galinski in ein schwedisches Möbelhaus und kauft sich neue Sofas, Stühle und Schränke. Ihr Entschluss steht fest: Sie will umziehen und zwar von ihrer Wohnung mit Blick über den Berliner Zoo ins Betreute Wohnen im Jeanette-Wolff-Heim. Und da sie seit jeher eine Frau der Tat ist, verschenkt sie ihre Eichenmöbel und kündigt die Wohnung.
Heute, anderthalb Jahre später, sagt sie: »Obwohl es hier im Heim sehr schön ist und alle sehr nett sind, fehlen mir meine alte Wohnung, meine Nachbarn und der Blick hinaus auf den Zoo und die Straßen.« Von ihrem neuen Zuhause dreht sie jeden Tag zwei Runden um den benachbarten Lietzensee. Doch dort ist es ihr viel zu ruhig, »für meinen Geschmack langweilig«.
Empfang Aus ihrem Alter mochte Ruth Galinski nie ein Geheimnis machen, schon allein deshalb nicht, »dass ich nicht älter geschätzt werde, als ich bin«. Am Dienstag ist sie 90 Jahre alt geworden. Ihr Geburtstag ist gleichzeitig der Todestag ihres Ehemannes Heinz Galinski sel. A. Der ehemalige Zentralratsvorsitzende und Berliner Gemeindechef starb im Juli 1992. Auch in diesem Jahr wurde an seinem Todestag bei einer Gedenkstunde auf dem Friedhof Heerstraße das Kaddisch gesprochen.
Für denselben Tag hatte Gemeindevorsitzende Lala Süsskind zu einem Empfang eingeladen, zu dem alte Freunde, Politiker und Gemeindemitglieder kamen. »Ruthchen ist eine absolut ausgleichende und ausgeglichene Frau. Wenn ich ihr manchmal meinen Ärger über etwas in der Gemeinde erzähle, sagt sie immer: Schätzchen, reg dich nicht auf!« Das helfe, so Süsskind. Außerdem sei Ruth Galinski außerordentlich bescheiden und dankbar. »Sie ist so glücklich über jedes nette Wort und jedes Lächeln, dass es einen rührt«, sagt die amtierende Gemeindechefin.
»Meinen Geburtstag habe ich selten gefeiert – denn da sind fast immer alle verreist«, meint Ruth Galinski. Und nun ist es auch noch der Todestag ihres Mannes. »Heinz fehlt mir sehr. Sein Tod hat mir den Boden unter den Füßen weggerissen. Ich fühle mich wie amputiert.« Auch das gesellschaftliche Leben veränderte sich schlagartig für sie. Es wurde immer stiller um sie und die Einladungen nahmen ab.
Ihre Ehe sei sehr glücklich gewesen, sagt sie. Auch nach 45 Jahren hätten sie und ihr Mann einander immer noch etwas zu sagen gehabt. Sie konnten über dieselben Witze lachen und hatten in vielem einen ähnlichen Geschmack: Sie mochten es, ihre Wohnung modern einzurichten – »bloß nichts Altes«.
Jeden Morgen brach Heinz Galinski früh auf, abends kam er spät zurück. Seine Frau Ruth wartete auf ihn, Tag für Tag. Dann saßen sie zusammen und unterhielten sich bei einem Glas Wein. Nur über die Gemeinde wollte er dann nicht mehr sprechen, weil er sich den ganzen Tag mit ihr beschäftigt hatte. Den Personenschutz fand er nahezu unerträglich. Er sei niemals allein, klagte er seiner Frau gegenüber. Selbst wenn er sich mal einen Anzug kaufen wollte, kam der Personenschutz mit. Einmal, in den ersten Jahren als Gemeindechef, ließ er sich von seinem Chauffeur zu Hause absetzen, wartete, bis seine Begleitung gegangen war und verließ dann unangekündigt die Wohnung. Doch er flog auf – und von da an wurde er noch mehr beschützt.
Eine Eigenschaft, die Ruth Galinski an ihrem Mann besonders schätzte, war seine Fähigkeit, sich zu entschuldigen. »Er konnte seine Fehler einsehen.« Wann immer sie sich über etwas geärgert hatte, kam er und schlichtete den Streit. Seit 19 Jahren lebt Ruth Galinski inzwischen allein. Auf den Fensterbänken stehen Bilder aus ihrem Leben, und auch die Wände sind voll damit. »Ich liebe Fotos«, sagt sie. Eine Aufnahme zeigt sie als vierjähriges Mädchen zusammen mit ihrem älteren Bruder. Beide in Matrosenanzügen. Ruth Weinberg, wie sie damals hieß, musste für das Foto einen Hut aufsetzen, was sie derart ärgerte, dass sie wütend in die Kamera schaut.
Machtübernahme Mit ihrer Familie lebte sie damals in Dresden, doch mit der Machtübernahme Hitlers änderte sich ihr Alltag abrupt. Ab 1933 durfte sie kein Schwimmbad mehr betreten, ebenso wurde ihr der Schulbesuch verwehrt. Doch eines in ihrem Leben gab ihr Halt: der Sport.
»Ohne ihn hätte ich eine jämmerliche Kindheit gehabt. Der Sport war mein Leben.« Möglich war er nach 1933 nur in jüdischen Vereinen. Sie spielte Tischtennis, war Speerwerferin und Hochspringerin, wurde sogar deutsche Meisterin. Und sie spielte Feldhandball. Ihr Vater war auch sportlich – und sehr ehrgeizig. Er beobachtete seine Tochter bei den Handballspielen und hielt ihr nach der Partie vor, wann sie hätte besser agieren können.
Im Rahmen von Hitlers »Polenaktion« wurde Ruth Weinberg 1938 mit ihrer Mutter und ihrem Bruder in ein Lager bei Warschau deportiert, später kamen sie ins Ghetto, wo sie den Anwalt Leon Davidson kennenlernte und ihn heiratete. Zu acht lebten sie in einem Zimmer.
Mit falschen Papieren gelang ihr schließlich die Flucht. Ab diesem Zeitpunkt lebte sie in einem Versteck und hatte ständig Angst davor, entdeckt zu werden. Eines Tages kehrte ihr Mann nicht zurück. Ruth flüchtete daraufhin in die Berge und schloss sich einer Widerstandsgruppe an.»Dass ich überlebt habe, hat mich starkgemacht.«
Brief Als die Sowjets kamen, war für sie der Krieg zu Ende. Die junge Frau zog nach Krakau und fand als Kassiererin eine Arbeit – und hoffte auf ein Wunder. Das kam: Ein Brief ihres Vaters aus Argentinien, der ihr schrieb, dass Bruder und Mutter wohlauf seien und sie in Berlin auf ihr Visum warten solle. Was sie auch tat. Sie überbrückte die Zeit, indem sie eine Handballmannschaft aufbaute. Und eines Tages kam Heinz Galinski in ihr Leben. Nun hatte sie keine Zeit mehr zum Trainieren, weshalb sie mit dem Sport aufhörte. »Es fiel mir überhaupt nicht schwer. Ich war ja verliebt.«
An Ruths 26. Geburtstag verlobte sich das junge Paar. Wenig später heirateten sie, bekamen eine Tochter und blieben in Berlin. Ruths Vater hat seinen Schwiegersohn nie kennengelernt, da er in Argentinien blieb und seine Heimat nie wieder sah.
Eine eigene Karriere strebte Ruth Galinski nicht an. Sie sei als Hausfrau und Mutter glücklich gewesen, sagt sie. Gemeinsam mit Jeanette Wolff und Lilli Marx baute sie den Jüdischen Frauenbund auf. Bis heute ist sie Ehrenvorsitzende der Deutsch-Israelischen Hilfe für krebskranke Kinder.
»Ich bin Spätaufsteherin«, sagt sie. Bis zum Mittag bleibt die 90-Jährige in ihren eigenen vier Wänden. Wenn die anderen Bewohner sich vor dem Essen im Foyer treffen, dann geht sie auch hinunter – aber nur, um andere in ihren Rollstühlen zu schieben und mitzuhelfen. Selbst kocht sie sich ihr Mittagessen erst gegen 16 Uhr. Und abends geht sie sehr spät ins Bett. Sie sei eben eine Nachteule, meint sie.
Einige ihrer Freunde sind bereits gestorben, andere weggezogen. Mit ihnen telefoniert sie oft. Bis vor Kurzem hat sie mit Freunden häufig Kino- und Theaterpremieren besucht, aber nun sei ihr der Weg zu weit. Auch die Synagoge hat sie gewechselt. Früher betete sie in der Pestalozzistraße, nun geht sie in die Herbartstraße – das liegt praktisch vor der Wohnungstür. Für die Gemeindepolitik interessiert sie sich nach wie vor. »Natürlich werde ich bei der nächsten Wahl am 4. Dezember meine Stimme abgeben. Das ist für mich Pflicht.«