Er war ein ausgezeichneter Pädagoge, ein bedeutender Kanzelredner und – was über uns allen ist – ein hochachtbarer und wahrhaft edler Charakter.» Das schrieb die Allgemeine Zeitung des Judentums am 13. Oktober 1905 als Nachruf über den kurz zuvor verstorbenen Kasseler Landesrabbiner Isaac Prager. «Mit ihm», hieß es weiter, «verliert der deutsche Rabbinerstand einen seiner besten Vertreter.»
Doch in Kassel, wo Prager beerdigt wurde, ist bisher wenig über ihn bekannt. Das könnte sich jetzt ändern, denn in diesen Tagen sorgt seine Bibliothek für Aufmerksamkeit. «Alter Schatz neu entdeckt», titelte die Lokalzeitung. «Einzigartiger Schatz jüdischer Kultur» überschrieb die Universität in ihrer Zeitschrift einen Artikel über die Prager-Bibliothek.
2500 Bücher Die lagert in der Murhardschen Bibliothek, die als städtische Einrichtung gegründet wurde und heute zur Universität gehört. Dass Pragers Bücher sich dort befinden, war bekannt. Für Überraschung aber sorgte die – zufällige – Entdeckung von Sabina Lüdemann, Leiterin der Hessischen Abteilung dieser Bibliothek, dass das, was bisher als Pragers Sammlung angesehen wurde, nur ein vergleichsweise kleiner Teil der Bibliothek ist. Nun zeigt sich, dass um die 2500 Bücher existieren, neben religiösen Texten diverse pädagogische und schöngeistige Literatur.
Das war quasi das Problem, denn die Bücher, die nicht in die Signatur «Rabbinica» passten, waren in den übrigen Bestand der Murhardschen Bibliothek einsortiert worden und damit über die Regale verstreut.
Als Isaac Prager 1905 starb, waren seine Bücher von der Stadt für die von den Brüdern Murhard gegründete Bürgerbibliothek angekauft worden. Sie überstanden – und das macht unter anderem ihren Wert aus – die Nazizeit. Es gibt Vermutungen, dass der von den Nazis abgesetzte Sozialdezernent Hermann Haarmann, der 1933 Leiter der Murhardschen Bibliothek wurde, die Bücher in keinem Verzeichnis aufführte und sie so vor der Vernichtung bewahrte. Die Geschichte von Pragers Büchern gilt es ebenso noch zu erforschen wie Leben und Schaffen des Rabbiners.
liberal Der «begeisterte Verkünder der göttlichen Lehre» und «selbstlose Förderer werktätiger Nächstenliebe», wie er auf seinem Grabstein beschrieben wird, war 1847 in Oberschlesien geboren worden, hatte in Breslau promoviert und kam 1885 nach Kassel als Landesrabbiner für Kurhessen. Prager gilt als Vertreter des liberalen Judentums.
Er predigte auf Deutsch, in seine Gottesdienste kamen auch Nichtjuden. «Seine religiöse Richtung war eine konservative, er verstand es aber durch seine Würde und Güte, allen Richtungen zu imponieren», hieß es im Nachruf der Allgemeinen Zeitung des Judentums. Für Karl-Hermann Wegner, Gründer des Kasseler Stadtmuseums, war es Pragers Verdienst, eine Abspaltung der neben der großen liberalen Gemeinde ebenfalls in der Stadt existierenden, deutlich kleineren orthodoxen Gemeinde zu verhindern.
Pragers Sohn Josef war ein Klassenkamerad des späteren Religionsphilosophen Franz Rosenzeig, von dem ein Teilnachlass in der Murhardschen Bibliothek liegt. Josef Prager wanderte 1932, rechtzeitig vor dem Machtantritt der Nazis, nach Eretz Israel aus. 1980 identifizierte er im Alter von 95 Jahren für das Kasseler Stadtmuseum Personen auf Zeichnungen des Malers Wilhelm Thielemann. Sie zeigten neben seinem Vater weitere bekannte Kasseler Persönlichkeiten in der Synagoge und sind so eine wichtige Quelle für die Erforschung der lokalen jüdischen Geschichte.
Bisher gibt es außer einigen Zeilen in Aufsätzen wenig Forschung über Prager. Sein Nachlass liegt nach den Informationen von Bibliothekarin Lüdemann im Leo Baeck Institute in New York. Seine Kasseler Bibliothek könnte, wenn sie rekonstruiert ist, Forscher animieren, sich Pragers Leben und Werk anzunehmen. «Das Wertvolle sind nicht die einzelnen Bände, sondern ihr Zusammenhang», so Lüdemann. Von Prager selbst vergebene Signaturen, Widmungen oder Anstreichungen sind Spuren, die sein Schaffen nachvollziehbar machen.
rosenzweig Der Historiker Frank Stern, im Jahre 2013 Franz-Rosenzweig-Gastprofessor in Kassel, meint, dass die Prager-Bibliothek für die Erforschung des jüdischen Milieus in Kassel, insbesondere von Franz Rosenzweig und seinem Umfeld, «von besonderer Bedeutung» ist.
Stern erforscht derzeit den Kasseler Nachlass von Rosenzweig. Durch die von der Murhardschen Bibliothek geplante Vereinigung aller vorhandenen Werke aus dieser Sammlung, so Stern, «können wir erstmals erfassen, wie jüdische Religion und Tradition in einem gesellschaftlichen Zusammenhang an Kinder, Jugendliche und in Predigten vermittelt wurde». Zudem werde «ein Licht auf die Art und Weise geworfen, wie Rosenzweig und seine Generation sich ein lebendiges, in der jüdischen Tradition verankertes zeitgemäßes und modernes Verständnis jüdischen Glaubens und Wissens aneignen konnten».
Die wiedervereinigte Prager-Bibliothek soll nun Stück für Stück der Forschung zugänglich gemacht werden, die Digitalisierung des Bestandskatalogs läuft. Zahlreiche Bücher sind jedoch beschädigt und müssen restauriert werden. Schätzungsweise 50.000 Euro werden nötig sein, um die ersten 30 Exemplare auf Vordermann zu bringen. Für einige Exemplare sind bereits «Buchpaten» gefunden worden, der Freundeskreis der Murhardschen Bibliothek und anonyme Spender zeigten sich großzügig. Weitere Buchpaten werden jetzt gesucht.