Ich bin sehr strukturiert, plane am Sonntagabend, bevor ich mich schlafen lege, die kommende Woche. Vor ein paar Monaten habe ich mir ein Whiteboard gekauft und über dem Schreibtisch aufhängt. Darauf notiere ich, nach Priorität geordnet, all die Sachen, die ich in den nächsten Tagen machen muss. Wenn eine Aufgabe erledigt ist, hake ich sie mit dem roten Stift ab.
Als ich vor vier Jahren wegen des Studiums von zu Hause auszog, war das ein Sprung ins kalte Wasser. Ich war ganz auf mich allein gestellt. Die größte Aufgabe bestand darin, zu lernen, das eigene Leben zu organisieren. Vorher war ich ja im Elternhaus gut versorgt worden.
Hobby Aufgewachsen bin ich in Hannover, jetzt lebe ich in Heidelberg und studiere Jüdische Religion, Spanisch, Latein und Hebräisch auf Lehramt fürs Gymnasium. Nach dem Abitur habe ich lange überlegt, was ich machen könnte. Mein Opa hat mir dann gesagt: »Kind, mach doch das weiter, was du gern tust! Mach dein Hobby zum Beruf!« Ich war damals bereits Madrich, Gruppenleiter im Jugendzentrum der Jüdischen Gemeinde Hannover, und wusste, dass mir die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen großen Spaß macht. Also habe ich mich für den Lehrerberuf entschieden.
Seit 2007 leite ich das Jugendzentrum »Oz« der Jüdischen Gemeinde in Wiesbaden. Als ich nach Heidelberg ging, da war ich ja schon vier, fünf Jahre dabei und wollte auf keinen Fall aufhören mit dieser Arbeit. Das war eine gute Entscheidung. Denn zu dem sehr theoretischen Lehramtsstudium ist die Arbeit in Wiesbaden ein wohltuender praktischer Ausgleich.
In Heidelberg lebe ich im Studentenwohnheim. Nach meiner Rückkehr aus Argentinien habe ich ein Einzelappartement bezogen. In Argentinien wollte ich ursprünglich nur ein halbes Jahr bleiben, habe aber dann um weitere sechs Monate verlängert. Ich habe Sprachkurse besucht, ein Praktikum an der Deutschen Schule gemacht und Seminare an der Uni belegt. Im Februar bin ich zurückgekommen und wohne jetzt allein. Vorher war ich in einer Vierer-WG, das wollte ich aber nicht mehr wegen des koscheren Essens.
Ich halte mich an die Regeln und finde es wichtig, nach den Traditionen zu leben. Ich bin so erzogen worden, daher fällt es mir nicht schwer. Ich bin sogar froh, dass es den Schabbat gibt. Das ist die einzige Zeit, zu der mein Handy aus ist. Die Woche über ist es recht stressig, so habe ich wenigstens einen Tag, an dem ich wirklich Ruhe habe und mich entspannen kann.
Meine Eltern haben die Ukraine verlassen, weil sie wollten, dass wir nach unserer Religion leben können und wir Kinder eine bessere Zukunft haben. Wir stammen aus Odessa. Ich war drei Jahre alt, als wir nach Deutschland kamen. Inzwischen ist es so, dass meine Eltern viel Wissen übers Judentum von mir mitbekommen. Was Gebote und Verbote betrifft, bin ich der Ansicht, dass ich mich als angehender Religionslehrer an das halten sollte, worüber ich zu den Schülern sprechen werde. Ich will die Kinder ja nicht an der Nase herumführen.
Seminare Über die Woche verteilt habe ich mal den ganzen Tag, mal nur vormittags und mal nur nachmittags Seminare an der Uni. Montags beispielsweise besuche ich in diesem Semester nur eine Lehrveranstaltung, ab mittags habe ich frei. Das heißt allerdings keineswegs, dass ich dann nichts zu tun habe. Irgendetwas gibt es immer zu erledigen, E-Mails beantworten, mich auf die Uni vorbereiten. Dienstagvormittag bin ich meist mit Lateinübersetzungen beschäftigt, denn am Nachmittag habe ich mein Latein-Seminar.
Ich versuche, regelmäßig schwimmen zu gehen, meistens am Mittwochvormittag. Sonst treibe ich keinen Sport, abgesehen davon, dass ich oft dem Bus hinterherlaufen muss. Meine Freizeit gestalte ich meist flexibel und ziehe es vor, statt lange zu telefonieren, mich mit meinen Freunden zu treffen, auch wenn es nur auf einen Kaffee ist. Ich bin recht kommunikativ und habe viele Kontakte, auch im Wohnheim. Dort muss jeder eine Aufgabe übernehmen. Ich bin Tutor für Studierende aus dem Ausland. So klopft immer mal jemand an meiner Tür. Abends bei schönem Wetter gibt es auch spontane Treffen im Hof, wir sitzen dann zusammen und plaudern.
Laptop Der Sonntag ist ganz meiner Arbeit in Wiesbaden gewidmet. Dadurch, dass ich in Heidelberg wohne, konzentriert sich vieles, was das Jugendzentrum betrifft, auf diesen Tag. In der Regel bin ich nur sonntags dort. Wenn wir größere Veranstaltungen wie beispielsweise eine Wochenendfreizeit planen, dann fahre ich auch mal in der Woche hin. Sonntags stehe ich gegen 8 Uhr auf und gehe um 10 Uhr herum los in Richtung Bahnhof. Mein Laptop ist immer dabei, er ist ein wichtiger Bestandteil meines Lebens, sozusagen mein dickster und bester Freund. Ohne ihn und all die Daten darauf wäre ich aufgeschmissen.
Während der Fahrt nach Wiesbaden bereite ich mich auf Seminare in der Uni vor. Manchmal döse ich auch nur so vor mich hin oder sehe mir einen Film an. Seit ich in Argentinien war, tendiere ich zu lateinamerikanischen Filmen.
Mein Dienst im Jugendzentrum beginnt gegen zwölf Uhr. Ich kümmere mich um die Post, coache die Gruppenleiter und unterstütze sie bei der Vorbereitung ihrer Gruppenarbeit. Nach 18 Uhr, wenn die Kinder und Jugendlichen weg sind, haben wir eine Teamsitzung, in der wir den Tag reflektieren. Mit dem Zug um 20.31 Uhr fahre ich dann zurück nach Heidelberg. Und wenn ich zu Hause angekommen bin, setze ich mich an den Schreibtisch und aktualisiere meine To-do-Liste für die kommende Woche.
Einmal im Monat, wenn wir Kinder- und Jugendgottesdienst haben, fahre ich bereits am Freitagmittag nach Wiesbaden. Nach dem Gottesdienst gibt es ein gemeinsames Essen und Programm für die Kinder. Am Samstagmorgen bin ich wieder in der Synagoge. Danach erhole ich mich und schlafe viel. Denn ich gehe in der Woche oft spät, zwischen ein und zwei Uhr, ins Bett und stehe früh auf.
Datenverlust In diesem Semester habe ich freitags nur einmal im Monat vormittags ein Seminar. Sonst habe ich also frei und nutze diese Zeit zum Saubermachen und Aufräumen. Bei mir hat alles seine Ordnung und seinen Platz. Wenn ich etwas brauche, will ich nicht suchen. Bei den vielen Aufgaben, die ich zu erledigen habe, ist mir mein System sehr wichtig. Sonst würde ich den Überblick verlieren, das wäre eine Katastrophe. Ordner und Unterlagen habe ich auch noch bei meinen Eltern. Wenn ich etwas brauche, dann weiß ich genau, wo es zu finden ist. Ich rufe sie an und beschreibe, in welcher Kiste sie nachschauen müssen.
Dadurch, dass Heidelberg von Hannover weit entfernt ist, sehe ich meine Eltern nur selten. Aber wir telefonieren täglich. Auch meine Großeltern rufe ich jeden Abend an, meist nach der Tagessschau. Bei meiner Familie verbringe ich die Semesterferien, werde im Hotel Mama versorgt und von Omas Küche verwöhnt. Auch wenn ich dort bin, ist der Sonntag meiner Arbeit in Wiesbaden gewidmet. Dann fahre ich von meinen Eltern aus dahin.
Wenn alles so läuft, wie ich plane, fange ich im Januar 2014 mit dem Referendariat an. Ich könnte mir vorstellen, dass ich mal als Lehrer ins Ausland gehe, aber nicht dauerhaft. Ich sehe es als eine gesellschaftliche Verpflichtung, das Wissen und die Erfahrungen, die ich mir rund um das Judentum angeeignet habe, an die nächsten Generationen weiterzugeben. Daher will ich in Deutschland bleiben.
Aufgezeichnet von Canan Topçu