Nicole Diekmann twitterte am 1. Januar 2019: »Nazis raus!« und machte damit ihrer Empörung über den zunehmenden Rechtspopulismus und ihrer Sorge um die Demokratie Luft. Tage- und wochenlang schlug der Journalistin und Korrespondentin des ZDF-Hauptstadtstudios in Berlin eine Welle von Hass, Mord- und Vergewaltigungsdrohungen entgegen.
Martin Ritter, ehemals Realschullehrer, 83 Jahre alt, erforscht seit mehr als einem Vierteljahrhundert die Geschichte jüdischen Lebens in seiner Heimatgemeinde Obersulm und machte sich um die Erhaltung der Synagoge und des jüdischen Friedhofs im Ortsteil Affaltrach verdient, deren historische und kulturelle Bedeutung er Schülergruppen vermittelt.
engagement Für ihr herausragendes Engagement in Wissenschaft und Publizistik gegen Minderheitenfeindlichkeit und Vorurteile wurden Diekmann und Ritter von der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württemberg (IRGW) und dem Landtag von Baden-Württemberg mit der Joseph-Ben-Issachar-Süßkind-Oppenheimer Medaille geehrt. »Ihre Arbeit ermutigt uns alle, für eine Kultur der Solidarität, der Zuwanderung und des Zusammenhaltens zu streiten«, betont Landtagspräsidentin Muhterem Aras bei der Preisverleihung anlässlich des Empfangs zum Neujahrsfest 5780 vor 380 Gästen aus Politik, Wirtschaft, Kultur und den Glaubens- und Religionsgemeinschaften im Weißen Saal des Neuen Schlosses.
»Joseph Oppenheimer (1698–1738) war das Opfer eines Justizmordes und einer Hetzkampagne, die die Unzufriedenheit der Bevölkerung umlenkte auf einen Sündenbock«, erinnert Aras an das Schicksal des Namenspatrons der Ehrung, die seit 2015 alle zwei Jahre verliehen wird. »Auch heute arbeiten politische Kräfte daran, unsere Gesellschaft aufzuspalten. Die Unkultur, Menschen aufgrund ihrer Religion oder Herkunft pauschal abzuwerten und anzugreifen, gibt es bis heute. Dem müssen wir als vielfältiges und offenes Gemeinwesen entgegentreten.«
Dass Dinge außerhalb des eigenen Lebensumfeldes immer wieder reflexhaft als fremd oder nicht zugehörig angesehen werden, prangert Aras am Beispiel einer Veröffentlichung im Magazin »Spiegel« an, der jüdisches Leben als »die unbekannte Welt nebenan« bezeichnete.
grundgesetz 70 Jahre Grundgesetz: Diesen Jahrestag am 23. Mai bezeichnet Mark Dainow, Vizepräsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, als das für ihn wichtigste Jubiläum des vorangegangenen Jahres. Nachdem IRGW-Vorstandssprecherin Barbara Traub berichten konnte, dass die Gemeinde mit guten Bedingungen und einer hervorragenden Versorgung mit Rabbinern zuversichtlich in das neue Jahr starten kann, nennt Dainow die Gemeinde »ein herausragendes Beispiel für den Erfolg des Grundgesetzes«. »Wir Juden«, so Dainow, »sind nie am Rande gestanden, wir haben diese Demokratie mitgestaltet, leben in dieser Gesellschaft, mittendrin und engagiert.«
Die Zustandsbeschreibung unserer Demokratie, die Ulrich Eith vom Studienhaus Wiesneck als Laudator von Nicole Diekmann liefert, zeigt allerdings mit erschreckender Klarheit, dass sie »vor existenzbedrohenden Herausforderungen steht, nicht nur in Deutschland«. Selbst im Landtag von Baden-Württemberg seien unverhohlene rassistische Angriffe offenbar kein Tabu mehr, Rechtspopulisten hätten es mit Erfolg verstanden, den Identitätsdiskurs als zentralen Maßstab für Demokratie (»Wir sind das Volk«) in den Vordergrund öffentlicher Diskussion zu rücken.
Diesem Denken müsse entschieden widersprochen werden, sagte er zwei Tage vor dem Anschlag in Halle. Dass es dafür Haltung, Zivilcourage und Unerschrockenheit gegenüber Beleidigungen und massiven Drohungen brauche, habe Nicole Diekmann eindrucksvoll unter Beweis gestellt.
anfeindungen Respekt und Bewunderung zollt Paula Lutum-Lenger, Leiterin des Hauses der Geschichte Baden-Württemberg in Stuttgart, Martin Ritter, der seine Auszeichnung nicht selbst entgegennehmen konnte. Sie könne sich keinen würdigeren Empfänger als Ritter vorstellen, der die Erinnerung lebendig halte und als großartiger Geschichtenerzähler bekannt sei. Seine Beharrlichkeit habe durchaus eine moralische Dimension, denn auch er müsse Anfeindungen aushalten.
Sie habe, sagt Nicole Diekmann (41) in ihrer Dankesrede, nicht nur Hass erfahren, sondern auch viel Zuspruch für ihre klare Ansage »Nazis raus!«. Und sie werde, verspricht sie, diesen Weg weitergehen: »Diese Etappe heute macht Mut.«