Der 30. Januar 2011 ist ein wichtiges Datum für die jüdische Gemeinde in Rostock. Nicht nur, weil eine restaurierte 200 Jahre alte Tora in die Synagoge in der Augustenstraße zurückkehrt. Vielmehr ist die Wiederherstellung der Rolle ein Symbol für einen Zusammenhalt. »Um das Geld für die Restaurierung zusammenzubekommen, haben uns nicht etwa nur Geldgeber von außen geholfen. Nein, vor allem unsere Leute spendeten«, sagt der Gemeindevorsitzende Juri Rosov. Dies sei angesichts der sozialen Situation des Großteils der fast 700 Juden äußerst bemerkenswert. »Unsere Gemeindemitglieder sind meist arme Menschen, die auf Sozialhilfe angewiesen sind. »Trotzdem gaben sie je nach Möglichkeit Geld dazu, um diese Rolle zu finanzieren.«
Entwickelt hat sich diese Solidarität in knapp 20 Jahren, nämlich seit ihrem neuerlichen Aufleben. Für die Rostocker Gemeinde gibt es zwei Gründungsdaten. Zum einen 1992, als in der Hansestadt die Jüdische Landesgemeinde ins Leben gerufen wurde. Erst zwei Jahre später, nämlich im April 1994 hieß sie dann offiziell Jüdische Gemeinde Rostock, nachdem sich auch eine in der Landeshauptstadt Schwerin gebildet hatte. »Wir wissen immer nicht so recht, wann wir unser Jubiläum feiern sollen«, meint Juri Rosov. Allerdings ist der 50-Jährige sowieso nicht unbedingt ein Mann der Vergangenheit.
gegenwart Der studierte Pädagoge steht als Vorsitzender seit 2004 für ein jüdisches Leben im Hier und Jetzt. »Ich bewundere es, wie die Rostocker und die Deutschen mit ihrer Geschichte umgehen«, sagte der Ukrainer im Juni des vergangenen Jahres auf einer Veranstaltung der Richard-Siegmann-Stiftung in der Hansestadt. »Trotzdem wünsche ich mir, man würde mehr über den Augenblick sprechen. Wir wollen in der Stadt verwurzelt sein und sind offen für jeden, der zu uns Kontakt sucht.«
Diese Haltung unterstreicht, dass jedermann die Synagoge besuchen kann. Die Gottesdienste laufen nicht hinter verschlossenen Türen ab. »Ich habe auf meinen Reisen durch Deutschland viele jüdische Gemeinden gesehen, in denen man die Synagoge nur mit Mitgliedsausweis oder nach vorheriger Anmeldung betreten kann. Wir wollen kein Ghetto, sondern ein Haus mitten im städtischen Leben sein.«
Angebote Das wird auch deutlich an der Doppelfunktion des Gebäudes in der Rostocker Steintor-Vorstadt als religiöses und kulturelles Zentrum. »Wir haben einen Diskussions-, einen Frauen-, einen Wissenschafts- und einen Gesundheitsklub. Hier gibt es klassische Konzerte und Abende mit Klesmermusik, es treffen sich regelmäßig die Senioren. Wir veranstalten Kinonachmittage, haben einen Malzirkel für Kinder, einen Tanzkreis oder geben dem Schachklub Unterkunft«, zählt der Gemeindevorsitzende auf. Dabei kommt er auf den Sportverein Makkabi zu sprechen, der aus der jüdischen Gemeinde hervorging. Inzwischen agiert er selbstständig, und seine Mitglieder sind längst nicht mehr nur Juden. »Neben Schach gibt es Gruppen im Fechten, Fußball, Aerobic oder Kraftsport. 90 Leute sind darin aktiv, die Hälfte davon angestammte Rostocker.« Er selbst ist beim Verein derzeit in einem Projekt tätig, das Kontakt zu anderen jüdischen Sportvereinen in der Ukraine und in Israel aufbauen soll.
Davor arbeitete Rosov beim Jüdischen Theater Mecklenburg-Vorpommern Mechaje als Dramaturg. Die Bühne existiert heute ebenfalls losgelöst von der Gemeinde, wenngleich die Schauspieltruppe natürlich aus ihr hervorging.
Ehrenamtlicher Kantor in der Rostocker Synagoge ist der 60-jährige Leonid Bogdan. Er stammt aus Lettland und leitet seit 1995 die Gottesdienste. »Es war eine richtige Entscheidung, nach Deutschland zu kommen«, sagt Bogdan. Auch wenn es offensichtlich nicht einfach war, in dem neuen Land Wurzeln zu schlagen. Mittlerweile ist er in Sachen Judentum ein gefragter Mann, unterstützt Landesrabbiner William Wolff und unterrichtet im Rahmen des Religionsunterrichtes Kinder aus Rostocker Schulen. Auch Studentengruppen nehmen sein Wissen in Anspruch.
Verwurzelung Laut Juri Rosov sind fast 30 Prozent der erwerbsfähigen Gemeindemitglieder arbeitslos. Das größte Problem für die Gemeinde sieht Rosov aber im fehlenden jüdischen Nachwuchs. »40 Prozent unserer Leute sind über 60 Jahre alt«, sagt der Vorsitzende. »Und es gehen immer mehr junge Menschen weg. Ehepaare mit Kindern ziehen oft in den Westen.« Der sogenannte demografische Wandel, der gerade für Mecklenburg-Vorpommern ein großes Problem darstelle, gehe auch an den Rostocker Juden nicht vorbei.
Dem entgegenzuwirken sei schwer, denn trotz kultureller und religiöser Angebote binde es die Menschen aus den verschiedenen Teilen der einstigen UdSSR nicht unbedingt an Rostock. »Es geht am Ende darum zu begreifen, dass wir unsere jüdischen Wurzeln hier in Rostock haben, auch wenn wir ganz woanders aufgewachsen sind«, sagt Juri Rosov. »Unsere Aufgabe ist es, die jungen Leute in das Gemeindeleben einzubeziehen. Nur auf diese Weise hat der mittlerweile dritte Versuch in der Geschichte der Hansestadt jüdisches Leben zu etablieren, eine Zukunft.«
Gemeindegeschichte
Die erste jüdische Gemeinde in Rostock entstand Mitte des 13. Jahrhunderts. Wie auch in anderen Städten wurden die Juden im Zuge der Pestepedemie, als man ihnen die Schuld an der Seuche gab, im 14. Jahrhundert auch aus Rostock vertrieben. 1868 kamen die Juden in die Hansestadt zurück und erbauten 1902 eine Synagoge in der Augustenstraße.
Ihre Blütezeit erlebte die zweite Jüdische Gemeinde in Rostock während der Weimarer Republik, als eine Reihe von Juden in Wirtschaft und Politik wichtige Positionen in der Hansestadt einnahmen. Erwähnt sei hier nur Richard Siegmann, der als Vorsitzender der Rostocker Straßenbahn AG das Straßenbahnnetz der Hansestadt elektrifizierte und als gewählter Vertreter in der Bürgerschaft saß. Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 begann der Niedergang der jüdischen Gemeinde in der Hansestadt. Am 10. November 1938 wurde die Synagoge niedergebrannt. Die letzten Juden wurden zwischen 1942 und 1944 aus Rostock deportiert.
Erst 1992 entstand mit der Einwanderung von Juden aus den ehemaligen Staaten der Sowjetunion auch in Rostock wieder eine Gemeinde, die heute 686 Mitglieder hat. Zusätzlich kümmert sie sich auch um die nichtjüdischen Eheleute der Gemeindemitglieder, oder Männer und Frauen, die keine jüdische Mutter haben. Laut dem Gemeindevorsitzenden Juri Rosov zahlen diese Mitglieder keine Beiträge, haben aber fast alle Rechte. Allerdings dürfen sie weder wählen noch gewählt werden.