Wolodymyr Selenskyj

Der Kämpfer

Solidarität und Entschlossenheit: Wolodymyr Selenskyj im Mai 2022 bei einem Besuch in einer zerstörten Wohnsiedlung der ostukrainischen Stadt Charkiw Foto: picture alliance / ZUMAPRESS.com

Wolodymyr Selenskyj stellt zweifellos eine Ausnahmeerscheinung dar. Seit vergangenem September führt er sogar die Liste der »weltweit einflussreichsten jüdischen Persönlichkeiten« an.

Anlässlich von Rosch Haschana, dem jüdischen Neujahrsfest, hatte die israelische Zeitung »The Jerusalem Post« mit dieser Geste den unermüdlichen Einsatz des ukrainischen Präsidenten für sein Land nach Beginn des russischen Angriffskriegs honoriert. Für die Verteidigung der europäischen Werte wird ihm und dem ukrainischen Volk nun heute der Internationale Karlspreis zu Aachen verliehen.

Symbolisches Lob bringt Punkte für Selenskyjs Image als kompromissloser Kämpfer für eine unabhängige Ukraine, ohne handfeste materielle Unterstützung lässt sich indes kein Krieg gewinnen. So äußerte er sich etwa zeitgleich zu seiner Ehrung »schockiert« darüber, dass die israelische Regierung sich weigere, Kiew mit der Lieferung moderner Raketenabwehrsysteme beizustehen.

Er verstehe nicht, was mit Israel passiert sei, bringe aber Verständnis für die schwierige Situation des Landes in Bezug auf den Nachbarn Syrien auf, der wiederum enge Kontakte nach Moskau pflege. Mit komplexen Verhältnissen kennt der versierte Politiker sich besser aus, als ihm lieb sein dürfte.

Frieden Als Wolodymyr Selenskyj 2019 zum Präsidenten der Ukraine gewählt wurde, versprach er seinem Land Frieden. Damit traf er den Nerv der vom Konflikt im Donbass ermüdeten Menschen und wirkte zum damaligen Zeitpunkt in seinem Anliegen glaubhaft. Wesentlich glaubhafter jedenfalls als seine politischen Konkurrenten.

Dass es ihm gelang, trotz seiner jüdischen Herkunft zum ersten Mann im Staate aufzusteigen, werteten viele damals anerkennend als Zeichen dafür, dass die Ukraine in der jüngsten Vergangenheit erfolgreich eine erhebliche Wegstrecke in Richtung Demokratie, Toleranz und Inklusion zurückgelegt hatte. Tatsächlich ging Selenskyjs familiärer Hintergrund fünf Jahre nach den Unruhen auf dem Kiewer Maidan 2014 in der aufgeladenen politischen Gemengelage zwar nicht völlig unter. Ein Vielfaches mehr an Raum nahm allerdings seine oftmals kolportierte Nähe zu dem ukrainisch-israelischen Geschäftsmann Ihor Kolomojskyj ein. Ein Thema, dem Selenskyj lieber ausweicht.

Im öffentlichen Diskurs dominierten ohnehin ganz andere Themen. Die ukrainische Gesellschaft befand sich damals in einer existenziellen Umbruchphase und auf der Suche nach einer weite Bevölkerungsgruppen vereinigenden kollektiven Identität. Dass darin auch die ukrainischen Juden einen festen Platz fanden, verdient gesondert Erwähnung.

maidan Anna Wyschnjakowa, ehemalige Beraterin des ukrainischen Außenministeriums im Bereich Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus, führt dieses Phänomen auf die sichtbare Beteiligung von Juden an den Ereignissen auf dem Maidan zurück. Dies habe dazu geführt, dass jüdische Aktivisten mit der ukrainischen politischen Nation verschmolzen seien.

Erst als Erwachsener nahm er Verbindung zur jüdischen Gemeinde in Dnipro auf.

Michail Tkatsch, Vorsitzender der Vereinigten jüdischen Gemeinde der Ukraine, bezeichnete den ukrainischen Präsidenten als säkularen, nichtreligiösen Juden, dem der Schabbat vertraut sei, ohne ihn allerdings zu praktizieren. »Selenskyj ist ein Ukrainer«, lautete sein knappes Statement. Gemeint ist hier keine ethnische Zuschreibung, sondern ein staatsbürgerliches Konzept – ganz im Einklang mit dem politischen Ansatz, eine ukrainische National-idee zu entwickeln, die Raum für ethnische und konfessionelle Vielfalt lässt. Eine Idee, für die sich Selenskyj von Beginn seiner politischen Karriere an starkgemacht hat.

In seiner öffentlichen Selbstdarstellung spielt Selenskyj seine persönliche Verbindung zum Judentum dementsprechend gern herunter. »Der Umstand, dass ich Jude bin, nimmt etwa den 20. Platz in einer langen Liste meiner Eigenschaften ein«, zitierte ihn das »Wall Street Journal«. Jugendfreunde bestätigten dies aus eigener Erfahrung. In Krywyj Rih, der Eisenerzmetropole im Südosten der Ukraine und Selenskyjs Heimatstadt, lebten im letzten Jahrzehnt der Existenz der Sowjetunion nicht wenige Juden.

Ethnische oder religiöse Bezüge hatten, den Erinnerungen alter Bekannter nach zu urteilen, damals jedoch nur eine geringe Relevanz. Kein Wunder vor dem Hintergrund, dass jüdische Institutionen zu Sowjetzeiten zwangsweise ihre Türen schließen mussten und Menschen aus berechtigter Angst vor Diskriminierung jüdische Wurzeln – soweit möglich – besser verschwiegen.

besatzung Selenskyjs Großmutter kehrte erst nach dem Krieg in die Stadt zurück. Sie hatte die deutsche Besatzung nur deshalb überlebt, weil sie vor der Einnahme von Krywyj Rih durch die Wehrmacht zusammen mit anderen jüdischen Einwohnern ins weit entfernte kasachische Almaty evakuiert worden war. Selenskyjs Urgroßeltern wurden hingegen von den Deutschen ermordet.

Als Kind hatte er selbst kaum Berührungspunkte mit der jüdischen Community vor Ort. Erst als Erwachsener nahm er Verbindung zur jüdischen Gemeinde in Dnipro auf, einem Treffpunkt für zahlreiche Akteure aus Politik und Wirtschaft. Der dortige Oberrabbiner der Gemeinde, Shmuel Kamenetsky, hatte Selenskyj als professionellen Komiker zu einer Purimfeier geladen und stand mit ihm auch später noch in Kontakt.

Viel öffentliches Aufheben machte Selenskyj darum nicht.
In seiner Rolle als Präsident eines Landes, das seine über Jahrhunderte von Antisemitismus geprägte Geschichte nie ernsthaft aufgearbeitet hat, mag solch eine Haltung zum Vorteil gereichen. Betonte Distanzierung schützt Selenskyj hingegen nicht vor Irritationen und der enttäuschten Erwartungshaltung jener, die finden, ein jüdischer Politiker von derart hohem Rang müsse mehr leisten: wenn nicht für die Ukraine, so doch für alle Juden, die hinter ihm stehen und seine Friedensmission tatkräftig unterstützen.

us-kongress Anlässlich von Selenskyjs Rede im US-Kongress im Dezember 2022 schrieb die Rabbinerin Eva Robbins im »Jewish Journal« von einer vertanen Chance. Sie bedauerte, dass der ukrainische Präsident bei seinem eloquenten Auftritt mit Weihnachts- und Neujahrsgrüßen aufwartete, das Chanukkafest hingegen unerwähnt ließ.

Andere gingen mit ihm sogar weitaus schärfer ins Gericht. So sprach Yishai Edberg in einem Blogbeitrag für »The Times of Israel« Selenskyj gänzlich ab, ein jüdischer Held unserer Zeit zu sein – entgegen der anderslautenden weitverbreiteten Meinung und zahlreicher Lobeshymnen auf ihn, der mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln dem unerbittlichen russischen Militärapparat trotzt.

Auch als Komiker und Geschäftsmann pflegte Selenskyj Verbindungen nach Israel.

Blogger Edberg kreidete Selenskyj an, eine Nichtjüdin geehelicht, seine Kinder russisch-orthodox getauft zu haben und christliche Feiertage zu begehen. So gar nicht eines jüdischen Helden würdig seien zudem die Umstände, die ihn an die Macht gehievt hätten – nämlich mit der Hilfe von der extremen Rechten nahestehenden Bündnispartnern, wie dem langjährigen ukrainischen Innenminister Arsen Awakow. Last but not least spreche auch das anti-israelische Abstimmungsverhalten der Ukraine bei den Vereinten Nationen eine klare Sprache. Gemeint war die bei der UN-Generalversammlung im Dezember 2020 verabschiedete Resolution zur israelischen Präsenz auf den Golanhöhen.

Persönliche Bezugspunkte zu Israel bringt Selenskyj im Übrigen zur Genüge mit, allein schon deshalb, weil dort Verwandte von ihm leben. Auch als Komiker und Geschäftsmann pflegte er Verbindungen nach Israel. Ihm ist viel daran gelegen, auf Israel als Partner zählen zu können, seine Erwartungen an die Regierung hat er jedoch seit vergangenem Herbst etwas gezügelt. Zumindest lässt er weichere Töne anklingen.

Bei einer Pressekonferenz am ersten Jahrestag des groß angelegten russischen Militärangriffs im vergangenen Februar gab Selenskyj deutlich zu verstehen, dass sich die ukrainisch-israelischen Beziehungen als Resultat langwieriger und umfangreicher Gespräche auf unterschiedlichen Ebenen verbessert hätten. Seitens der israelischen Bevölkerung sei die praktische Solidarität ohnehin stark ausgeprägt.

erwartungen Und dennoch: Er verspricht sich weitaus mehr. In Anspielung auf die Versuche des israelischen Ex-Premiers Naftali Bennett, der in der Anfangsphase des Krieges nach Moskau gereist war, um das Gespräch mit Wladimir Putin zu suchen, legte Selenskyj seine Erwartungen an die politische Führung folgendermaßen dar: Nicht als Vermittler sehe er Israel im Krieg mit Russland, vielmehr wolle er, dass das Land sich klar auf eine Seite stellt.

»Natürlich würde ich mir sehr wünschen, dass es die Seite der Ukraine ist«, so Selenskyj. Neben humanitären und zivilen Hilfsgütern, die Israel ohnehin liefert, wird er mit Sicherheit weiterhin auf militärische Unterstützung drängen. Ohne sie hat sein Land schließlich keine Chance, Russlands Streitkräfte zurückzudrängen.

Ein Scheitern kann sich Selenskyj ohnehin nicht erlauben. Zu viel steht auf dem Spiel. Einige Vertreter jüdischer Organisationen in der Ukraine hegten bereits unmittelbar nach dessen Wahl zum Präsidenten die Befürchtung, dass Selenskyjs jüdische Herkunft, sollte er seine Wahlversprechen nicht einhalten können, früher oder später doch noch an Relevanz gewinne. Ukrainische Juden könnten in dem Fall als Sündenböcke herhalten müssen. Selenskyj mag das anders sehen. So oder so lässt er nicht locker und forderte erst kürzlich bei seiner Rede in Den Haag ein Tribunal gegen Russland im Stil der Nürnberger Prozesse.

Er kämpft also weiter. Als Politiker, Diplomat, PR-Talent, Jude und als jemand, dessen Schicksal mit der Ukraine untrennbar verbunden ist.

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