Es ist ein besonders düsteres Kapitel des Nationalsozialismus, das sich vor 75 Jahren, am 20. September 1940, vor den Toren Münchens abspielte. 192 jüdische Kinder, Jugendliche, Frauen und Männer, die in den psychiatrischen Kliniken Bayerns untergebracht waren und allein wegen ihrer »rassischen Zugehörigkeit« als »unwertes Leben« galten, wurden an diesem Tag von der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar in die Tötungsanstalt Hartheim (Oberösterreich) gebracht und ermordet. Es war der erste systematische Massenmord und Vorstufe zur Schoa.
Die Arbeitsgruppe »Psychiatrie und Fürsorge im Nationalsozialismus in München«, die sich die Aufarbeitung medizinischer Verbrechen aus jener Zeit zur Aufgabe gemacht hat, nahm zusammen mit dem NS-Dokumentationszentrum den 75. Jahrestag zum Anlass, dieses Ereignis wieder in Erinnerung zu rufen. Zunächst fand im kbo-Isar-Amper-Klinikum in Haar eine Namens- und Dokumentenlesung statt, danach im Dokumentationszentrum eine Vortragsveranstaltung unter dem Titel »Von der Euthanasie zur Endlösung«, an der auch einige Angehörige von damaligen Mordopfern teilnahmen. Moderiert wurde die Veranstaltung im Doku-Zentrum von Ellen Presser, Leiterin der IKG-Kulturabteilung.
zögerlich »Die Deportation und Ermordung der jüdischen Anstaltspatienten ist ein Kapitel, das nur sehr zögerlich und mit großer Verspätung aufgearbeitet wird. Umso wichtiger ist es, die Erinnerung wachzuhalten und die Lehren daraus zu ziehen«, ist IKG-Präsidentin Charlotte Knobloch überzeugt. Gerrit Hohendorf, Psychiater und Medizinhistoriker am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin an der Technischen Universität München, erläuterte bei der Veranstaltung, wie es zur systematischen Ermordung der Psychiatriepatienten kommen konnte und welche Rolle Ärzte dabei spielten. Zunächst, so Hohendorf, habe sich die Psychiatrie auf die »rassenhygienische Reinigung des Volkskörpers« konzentriert, was Zwangssterilisationen zur Folge hatte. Ab Mitte der 30er-Jahre stellte die Debatte um Euthanasie, die ärztliche »Erlösung« unheilbar Kranker, auch das Recht auf Leben chronisch kranker Anstaltspatienten infrage.
Der Gedanke des »unwerten Lebens« fand Hohendorf zufolge in der Psychiatrie viele Anhänger. Der öffentliche Protest, so der Medizinhistoriker, sei sehr gering gewesen. Er erinnerte an den Psychiater Alfred Hoche und den Juristen Karl Binding, die bereits 1920 die »Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens« gefordert hatten und das auch auf die »geistig Toten« und die »Ballastexistenzen« unter den Anstaltspatienten anwenden wollten. Bereits mit der Machtübernahme der Nazis 1933 sei das Zerrbild der »Erbkranken« und »Minderwertigen« propagandistisch in den Heil- und Pflegeanstalten verbreitet worden.
Die systematischen Krankenmorde, die 1940 einsetzten, wurden von der Tiergartenstraße 4 in Berlin aus organisiert. Dort war ein Teil der Kanzlei Hitlers untergebracht. Die Adresse lieferte auch den Namen für die »T4-Sonderaktionen«, wie das Verbrechen bezeichnet wurde. »Psychiatrische Gutachter«, so Hohendorf, »entschieden allein anhand der Angaben in den einseitigen Meldebögen über Leben und Tod der Patienten.« Angehörige der Opfer erhielten sogenannte Trostbriefe, die eine Erlösung von schwerem Leiden vorspielen sollten. Insgesamt fielen den verschiedenen Formen der NS-»Euthanasie« 300.000 Menschen zum Opfer, unter ihnen auch behinderte Kinder und Jugendliche. Deren spezifische Situation erläuterte Michael von Cranach, ehemaliger ärztlicher Direktor des Bezirkskrankenhauses Kaufbeuren.
Kinder Welche Rolle die Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar in dem mörderischen System spielte, beleuchtete Sybille von Tiedemann von der Arbeitsgemeinschaft »Psychiatrie und Fürsorge im Nationalsozialismus in München«. Die Anstalt war auch die Sammelstelle für 193 jüdische Patienten aus ganz Bayern, die von hier aus in den Tod geschickt wurden. Eglfing-Haar, so von Tiedemann, sei unter Leitung des überzeugten Nationalsozialisten und Arztes Hermann Pfannmüller zu einem Ort der Selektion und Vernichtung geworden.
Im Rahmen der »T4-Aktion« wurden von der Klinik aus 2100 Menschen in die Gaskammern der Tötungsanstalten Grafeneck und Hartheim transportiert. Neben 900 anstaltseigenen Patienten waren es vor allem Patienten kirchlicher Einrichtungen, die diesen Weg gehen mussten. Der Tod war aber auch innerhalb der Heil- und Pflegeanstalt ein ständiger Begleiter. Allein in der »Kinderfachabteilung« wurden mehr als 300 Kinder mit einer Medikamentenüberdosis ermordet, 440 Menschen starben in den sogenannten Hungerhäusern. Durch Überdosierung, Nahrungsentzug und Vernachlässigung starben in Eglfing-Haar auch weitere 1400 erwachsene Patienten, 35 wurden ins KZ Dachau überstellt.
Das Schicksal der Psychiatriepatienten in der NS-Zeit war lange ein Tabu. Erst im November 2011 nahmen deutsche Psychiater zu den Morden offiziell Stellung. Auch in Eglfing-Haar machte man nach dem Ende des NS-Regimes einen Bogen um dieses Thema. Nach 1945 wurden die »Kinderfachabteilung« und die beiden ehemaligen Hungerhäuser weiterhin für die Behandlung von Patienten verwendet – ohne Hinweise auf das Töten. Erst 1990 wurde auf dem Klinikgelände ein Mahnmal des Bildhauers Josef Gollwitzer installiert, das an die Opfer der Euthanasie erinnert.