Die Aufregung sieht man ihm noch deutlich an. »Hinter mir liegen einige sehr turbulente Tage«, berichtet Boris Ronis. Denn Ende November wurde der 41-Jährige recht überraschend von der Repräsentantenversammlung zum neuen Gemeinderabbiner der Synagoge Rykestraße er- nannt. »Und zwar einstimmig«, wie er betont. »Für mich ist das ein enormer Vertrauensbeweis und zugleich eine ganz besondere Ehre.«
Für den stolzen Vater zweier Söhne geht damit auch ein langjähriger Traum in Erfüllung. »Schließlich ist die Synagoge Rykestraße nicht nur eines der größten und schönsten jüdischen Gotteshäuser in Europa, sondern darüber hinaus auch Heimat einer tollen Gemeinde mit vielen engagierten Mitgliedern.« Und die hatten über 30 Jahre lang keinen eigenen Rabbiner. Diese Zeit ist nun vorbei.
Dabei ist Rabbiner Ronis in der Rykestraße alles andere als ein Unbekannter. Zu der Synagoge hat er einen sehr persönlichen Bezug. »Hier habe ich 2009 meine allerersten Erfahrungen gesammelt«, erinnert er sich. Seit seiner Ordination zum Rabbiner 2010 hat er dort immer wieder Gottesdienste geleitet, oft auch an den Hohen Feiertagen. Deshalb existiert bereits eine solide Basis für seine zukünftige Arbeit. Und als er am vergangenen Schabbat nach der Entscheidung der Repräsentantenversammlung vor die Gemeinde trat, begrüßte er die Anwesenden erst einmal mit einem »Hallo, hier steht euer alt-neuer Rabbiner«.
Die Freude über die Ernennung war offensichtlich ganz gegenseitig. »Ich habe in diesen Jahren beobachten dürfen, wie die Gemeinde immer größer wurde und eine ganz eigene Dynamik zu entwickeln begann.«
DDR Zu den Alteingesessenen, die noch aus der DDR stammten, hatten sich zuerst zahlreiche Zuwanderer aus der Ex-UdSSR gesellt. Dann kamen nach der Jahrtausendwende Juden aus allen Teilen Deutsch- lands, die es nach Berlin verschlagen hatte, den Vereinigten Staaten und Israel hinzu. »Es gibt sogar welche aus Brasilien oder Frankreich. Ich glaube, dass ein solcher Mix an Gemeindemitgliedern in Deutschland einzigartig sein dürfte.«
Für all diese unterschiedlichen Menschen mit ihren ganz spezifischen Bedürfnissen und Biografien als Rabbiner da zu sein, das erfordert schon ein hohes Maß an Fingerspitzengefühl, Offenherzigkeit und theologischem Know-how. Boris Ronis bringt davon eine Menge mit. Von Vorteil für ihn ist auf jeden Fall die Tatsache, dass er gutes Englisch und Hebräisch und vor allem fließend Russisch spricht. Schließlich wurde er 1975 im damals sowjetischen Czernowitz geboren.
Uni Potsdam Als er vier Jahre alt war, wanderte seine Familie nach Deutschland aus. »Ich verstehe mich deshalb als richtiger Berliner mit einem stark russisch-jüdischen Touch«, betont er. Zum Beruf des Rabbiners kam Ronis über einige Umwege. Nach dem Abitur erfolgte die Ausbildung zu dem, was man recht trocken als Sozialversicherungsfachangestellten bezeichnet. Dann schrieb er sich für die Fächer Jüdische Studien, Geschichte und Psychologie an der Universität Potsdam ein.
Aber auch das sollte es noch nicht sein. Er wollte unbedingt Rabbiner werden – eine Entscheidung, die jedoch nicht über Nacht fiel. »Ein halbes Jahr lang habe ich mich mit meiner Familie, Freunden und Professoren darüber beraten.« Schließlich stand sein Entschluss fest. Er schrieb sich am Abraham Geiger Kolleg ein. »Ich habe es keine Minute bereut«, wie Boris Ronis heute sagt. »Auch wenn es irgendwie ein Sprung ins kalte Wasser war.«
Denn die Rabbiner-Ausbildung war mehr als nur das Studieren theologischer Lehren. »Wir wurden darüber hinaus intensiv in Psychologie geschult und mussten von Anfang an zahlreiche Praktika absolvieren.« Dadurch kam er viel herum, arbeitete in den Synagogengemeinden von Köln, Göttingen und Mönchengladbach. Sogar zur Bundeswehr verschlug es ihn. »Zwei Wochen gemeinsam mit meinem Kommilitonen und Freund Konstantin Pal auf einem Schiff der Marine – das war schon eine besondere Erfahrung.«
Jerusalem Schließlich folgten einige Jahre am Pardes-Institut, am Steinsaltz-Institut und am Hebrew Union College in Jerusalem. »All das machte das Abraham Geiger Kolleg möglich, weshalb ich nicht nur mit dem Herzen dieser Institution für immer eng verbunden bleiben werde.«
Nach 2010 pendelte er als Honorarkraft lange zwischen den Synagogen Pestalozzistraße, Rykestraße und Fraenkelufer hin und her – das forderte viel Flexibilität. »In der einen Synagoge musst du mehr auf die Gabbaim eingehen, in der anderen mehr auf die Beter, und in der dritten dreht sich fast alles um die Predigt. Langweilig wurde es dabei nie«, erklärt Ronis lächelnd. »Für das Arbeiten mit sehr unterschiedlichen Menschen ist das aber keine schlechte Vorbereitung.«
Eine Erfahrung aus dieser Zeit möchte er auf keinen Fall missen. »Besonders ans Herz gewachsen ist mir der Minjan im Jeanette-Wolff-Elternheim in der Dernburgstraße.« Dessen Gründung geht auf eine Initiative von Manfred Friedländer, dem langjährigen Gabbai der Synagoge Pestalozzistraße, zurück.
Generation »Von ihm habe ich unfassbar viel gelernt, was Gemeindearbeit heißen kann: die Lebensgeschichten von unterschiedlichen Menschen auch aus der älteren Generation kennenzulernen und ihr Erbe weiterzugeben.«
Kaum ist man aber Gemeinderabbiner, beginnt bereits der Alltag. »Für den kommenden Schabbat muss der Kindergottesdienst für 16 Uhr und die Drascha für den Erwachsenengottesdienst vorbereitet werden«.
Die Ausrichtung der Rykestraße als generationenübergreifende Gemeinde will er weiter vorantreiben. »Der integrative Charakter und die spürbar fast schon familiäre Atmosphäre sind ihr Markenzeichen und gewiss auch das Geheimnis ihres Erfolges.« Und was ist für das bevorstehende Chanukkafest geplant? »Das wird noch nicht verraten. Aber vielleicht einfach mal in der Synagoge vorbeischauen.« Besonders jetzt, wo die Gemeinschaft endlich einen eigenen Rabbiner hat.