Wenn die Knie schmerzen, weiß man, dass Pessach naht. Denn bevor acht Tage lang nur Mazze und andere ungesäuerte Lebensmittel auf dem Speiseplan stehen, muss das Haus vom ganzen Chamez befreit werden. Das bedeutet: Feudeln, Wischen, Scheuern und Saugen ist angesagt. Für Anastasia Quensel eine besondere Herausforderung. Sie ist Mutter von zwei kleinen Kindern: Noam und Bruria. Während der Vierjährige schon versteht, warum er plötzlich nur noch in der Küche essen darf, ist die Zweijährige weniger nachsichtig. »Ich fange deshalb so spät wie möglich mit dem Pessachputz an«, sagt Quensel. Zumal »Nudeln und Brot nicht unnötig früh vom Speiseplan verschwinden sollen«.
Wenn sie dann aber doch die Putzhandschuhe auspackt, steht ihr eine Hilfe zur Seite, und die Kinder dürfen bei Oma spielen. »Für mich ist das gleichzeitig der Frühjahrsputz«, sagt die 27-Jährige. Deshalb jagt sie nicht nur Krümel, sondern verhilft auch gleich dem Kronleuchter zu frischem Glanz und den Fenstern zum Durchblick. Zudem muss das Alltagsgeschirr ein- und das Pessachgeschirr ausgeräumt werden. »Darauf freue ich mich immer besonders«, sagt die junge Frau. »Wir haben das Geschirr zur Hochzeit geschenkt bekommen, und es ist besonders schön.«
Traditionsgerichte Was zu Pessach auf den Teller kommt, ist eine Mischung aus Tradition und Moderne. »Ich versuche nicht zu viel mit Mazze zu machen«, sagt die junge Mutter, »sonst hängt es einem irgendwann zum Hals heraus.« Trotzdem stehen Mazzeknödel für die streng religiöse Familie selbstverständlich auf dem Speiseplan, auch der Gefilte Fisch – fix und fertig erworben, weil »das Selbermachen zu viel Arbeit ist«.
Koschere Rezepte findet Quensel in ihren Kochbüchern. In einem sind alle für Pessach geeigneten Rezepte mit einem Sternchen versehen. Außerdem hat sie sich ein Kartoffel-Kochbuch zugelegt, um der Knolle die richtige Würze zu verpassen.
Säkular aufgewachsen In die Details der Kaschrut musste sie sich ebenso einarbeiten wie in alle anderen Aspekte religiösen Lebens. Ebenso wie ihr Mann Bernhard ist sie in einem säkularen Haushalt aufgewachsen. Ihre Eltern, beide Russen, sind keine praktizierenden Juden. »Aber sie hatten auch nie etwas gegen das Judentum. Und für Russen ist das schon was«, sagt Quensel grinsend. Das meiste von dem, was sie weiß, hat sie in der Midrascha, dem Lehrhaus für Frauen der Lauder-Stiftung in Frankfurt gelernt. Bei vielem von dem, was sie bewältigen muss, helfen ihr gesunder Menschenverstand, ihr Talent fürs Organisieren und ihr ruhiges Gemüt.
Beispielsweise beim Einkaufen. Denn das ist in diesem Jahr eine logistische Herausforderung: Pessach und Ostern liegen so, dass Anastasia und ihrem Mann innerhalb von acht Tagen genau ein Tag zum Einkaufen bleibt – plus die Ladenöffnungszeiten nach Schabbatende. »Ich bin aber optimistisch, dass wir das hinbekommen«, sagt Quensel. »Ich liebe es, Listen zu erstellen.« So entwirft sie erst die Menüpläne, danach stellt sie Einkaufslisten zusammen. Die koscheren Lebensmittel bestellt sie teils in Dortmund, teils kauft sie im Frankfurter Koscher-Laden ein.
Entlastung Was sie ungemein beruhigt: Beide Seder-Abende verbringt ihre Familie mit der Gruppe »Jewish Experience«, in der sich junge Erwachsene regelmäßig zu verschiedensten Veranstaltungen treffen. In diesem Jahr sind sie und ihr Mann auch für die Organisation und den Ablauf der Sederim mitverantwortlich. Das macht zwar Arbeit, »aber ich habe zu Hause viel weniger zu tun und wenn es nicht schmeckt, bin ich nicht schuld«, sagt Quensel und lacht. Und sie kann sich besser auf den eigentlichen Sinn des Pessachfestes konzentrieren: die Geschichte vom Ende der Sklaverei, die Erzählung vom Auszug aus Ägypten.
Wenn man auf der Flucht ist und daher nicht ausreichend Zeit zum Backen hat, mag Mazze über Wochen eine Köstlichkeit sein. Was aber, wenn es aus dem Bäckerladen gleich um die Ecke immer so verführerisch duftet? Wenn das flache Ungesäuerte zum x-ten Mal unter dem Marmeladenmesser zerbricht? Hadert die Familie mit der Religion und Tradition, wenn am achten Tag noch immer Mazze auf dem Frühstückstisch steht? Für das Gemüt der Kinder sieht Quensel keine Gefahr: Für Bruria zähle nur, dass es überhaupt etwas zu essen gibt. Und Noam feiert genau an Pessach seinen fünften Geburtstag. Zudem hat er seinen Vater acht Tage lang zu Hause. »Das sorgt schon für ausreichend gute Laune«, sagt die junge Mutter.
Enthaltsamkeit Für sich selbst kennt sie schon jetzt die größte Sehnsucht: Kaffee. Denn an den Feiertagen verzichte sie auf ihre Pad-Maschine, wegen des Betriebsstroms und möglicher Zusatzstoffe in den Kapseln. Stattdessen gibt es israelischen Instant-Kaffee aus der Dose, und »der schmeckt mir nicht«, gesteht die 27-Jährige. Ihr Mann, da ist sie sich sicher, wird am meisten die Nudeln vermissen – und das Bier. Das erste Glas wird nach acht Tagen Enthaltsamkeit doppelt gut schmecken. Doch die Ruhe nach dem Fest währt nur kurz, denn die Feiertage enden, wie sie begonnen haben: Das Pessachgeschirr muss nun wieder ein- und das Alltagsgeschirr ausgeräumt werden.