»Ich muss noch durchs Haus gehen, weil wir eine Abnahme der Brandschutzmaßnahmen haben«, sagt Michael Rubinstein. Der Geschäftsfü rer der Jüdischen Gemeinde Duisburg-Mülheim/Ruhr-Oberhausen notiert sich Türen, die aufgekeilt sind, leicht brennbare Korkpinnwände, die eigentlich schon unter Glas sein sollten. »Und immer wieder liegen Dinge da, wo sie nicht sollen.«
kleinunternehmen Rubinstein nennt das den »alltäglichen Wahnsinn«. Es sind die Kleinigkeiten, die sich zu einem Job summieren, und der muss erledigt werden. »Eine Hotelreservierung gibt es nicht, danach wurde gar nicht gefragt«, ruft Rubinstein dann in den Nebenraum, wo gerade ein Telefongespräch geführt wird. »Aber uns fehlt auch noch die Anweisung für die Technik.«
Dann schließt er die Tür, er würde wohl sonst nicht aufhören, sich einzumischen. »Manche Dinge kann man anderen Leuten 20-mal sagen – es passiert nichts, bis man es selbst macht.« Oder selbst verzehrt. Die Duisburger Gemeinde soll koscheres Essen für eine Veranstaltung am Niederrhein liefern. Das Essen ist gekocht, allerdings wegen Abstimmungsproblemen drei Stunden zu früh. »Der Koch hat die Nudeln schon fertig? Auch egal, dann essen wir die selbst. Wie viel Kilo sind das?«
Die kleinen Aufgaben, die plötzlich anfallen und sofort erledigt werden müssen, sind das tägliche Brot einer Gemeindeverwaltung. »Dafür sind wir da«, sagt der Geschäftsführer. Mehr als 30 Mitarbeiter hat die Verwaltung. »Wir sind ein kleines Unternehmen.« Aber was produziert das kleine Unternehmen am Duisburger Innenhafen? »Religiöse, kulturelle und soziale Betreuung«, summiert Rubinstein. »Und meistens sind es nicht die ganz großen Sachen. Das Zwischenmenschliche ist wichtig.«
sozialarbeit Dafür ist neben anderen Julia Rappoport zuständig. Die Sozialarbeiterin sitzt in einem Büro im Stadtteil Neumühl. »Duisburg ist eine sehr lang gezogene Stadt«, erläutert sie. »Deshalb wollten wir ein Angebot für unsere Mitglieder im Norden schaffen.« Die sollen nicht zweimal oder dreimal umsteigen müssen, um mit öffentlichen Verkehrsmitteln das Gemeindezentrum am Springwall zu erreichen, wenn sie Hilfe brauchen.
Im Duisburger Norden, dem Einzugsgebiet des Neumühler Büros, leben rund 1000 der insgesamt 2800 Gemeindemitglieder. Die meisten sind russischsprachig und älter. »Sie haben Probleme bei der Kommunikation mit Behörden, können Anträge nicht alleine ausfüllen oder ohne Hilfe keine Einsprüche gegen Ablehnungsbescheide einlegen«, beschreibt Julia Rappoport ihre alltäglichen Aufgaben. »Meistens sind das solche Sachen. Oder Ärger mit dem Vermieter, ein Kind kommt in der Schule nicht klar.«
Gerade war die Sozialarbeiterin mit einem älteren Mann beim Arzt. Das Büro in Neumühl hat er danach blass verlassen, sich knapp auf Russisch verabschiedet. »Er lebt seit 20 Jahren hier und kann eigentlich Deutsch. Aber nicht in dieser Situation«, erzählt Rappoport. Der Arzt hatte eine Diagnose gestellt, die den älteren Herrn erschreckt hatte. »In einem solchen Moment sind die Menschen so nervös, dass sie gar nicht mehr daran denken, Deutsch zu sprechen.«
Nach einer kurzen Pause erzählt Julia Rappoport auch von den Dingen, auf die man in einer Ausbildung zum Sozialarbeiter nicht vorbereitet werden kann. »Wenn ich hier mit einem Holocaustüberlebenden sitze und ich ihm bei einer Ablehnung durch die Claims Conference nicht helfen kann, dann trifft mich das ins Herz«, sagt sie. »Noch wenn ich zu Hause bin, kann ich mich damit nicht abfinden.«
Manchmal sitzen auch Menschen vor Julia Rappoport, die eigentlich gar kein Problem haben. Jedenfalls keines, bei dem sie helfen könnte. »Aber das Angebot, dass wir immer hier sind, nutzen manche auch, weil sie einsam sind. Das sind die neuen Probleme, die auf uns zukommen.« Früher, kurz nach der großen Zuwanderungswelle, habe man sich um Wohnungen kümmern müssen, um Arbeitsplätze für die neuen Gemeindemitglieder.
»Jetzt sind die Menschen hier angekommen. Die älteren Leute haben eine schöne Wohnung, die Kinder haben Arbeit. Aber was macht die Oma oder der Opa, wenn auch die Enkelkinder groß genug sind, dass sie nicht mehr gebraucht werden? Sie sind einsam.« Andererseits sei das eine Chance, die Menschen weiter an die Gemeinde zu binden. Deshalb organisiert das Sozialbüro auch Ausflüge, bietet Kinoabende an oder kurze Reisen. »Die Leute kommen dadurch weiterhin zu uns – und unsere Räume stehen nicht leer.«
rabbiner Rabbiner Paul Moses Straskos Raum steht nicht leer. Drei Besucher drängeln sich in dem kleinen Büro. Nachdem sie weg sind, deutet Strasko auf seinen Schreibtisch. »Alltag? Das hier ist der Alltag«, sagt er und zählt auf: »Eine Tora mit Kommentaren, denn ich muss noch zwei Predigten schreiben, eine für die Sendung Schabat Schalom im NDR, eine für uns; hier noch ein Buch über die Spiritualität im Judentum, das ist für den Unterricht, den ich Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen gebe; ein unbeantworteter Brief; ein Kontakt nach Hannover; der Name eines kranken Mannes, den ich in mein Gebet aufnehmen soll« – und alles muss noch an diesem Tag abgearbeitet werden, es ist 13.30 Uhr. Viele Aufgaben, die er erledigen muss, seien »nicht sexy«, sagt der Rabbiner. Aber sie müssen gemacht werden.
Zwischendurch inspiziert Strasko die Synagoge. »Schauen wir doch mal hier, aha«, sagt er und zupft die Decke auf der Bima gerade, dann den Vorhang am Toraschrein. »Wenn die Leute während des Gottesdienstes auch nur eine Kleinigkeit entdecken, die falsch ist, konzentrieren sie sich nur noch darauf und nicht auf das, was ich erzähle«, erklärt er seine Pedanterie. »Nicht sexy, aber Alltag«, sagt er wieder.
pflicht und kür Gibt es auch Dinge in seinem Beruf, die »sexy« sind? »Wenn ich Sachen nicht mache, weil ich es muss, sondern weil andere Leute es wirklich wollen«, antwortet Strasko. Menschen, die zu ihm kommen und nach dem richtigen Umgang mit Tefillin fragen, ein Mitglied, das unbedingt eine Melodie für die Haftara lernen möchte oder Diskussionen nach Predigten. Das entschädigt dafür, wenn er – wie jede Woche mindestens einmal – schon wieder die Frage beantworten muss, ob gebrauchte Plastikschüsseln für eine koschere Küche geeignet sind.
Ungefähr im gleichen Rhythmus, wie eine Frage nach der Halacha kommt, muss sich der Rabbiner auch mit traurigen Themen beschäftigen. »Seit ich hier angefangen habe, das war Ende August, habe ich ungefähr jede Woche eine Beerdigung gehabt.« Einen traurigen Beruf habe er aber nicht, betont Strasko. »Man muss nur ein Gegengewicht schaffen. Manchmal spiele ich dann eine Stunde Klavier. Oder ich setze mich vor die Xbox.« Oder er geht in die Synagoge und zupft an Tüchern.
Die Jüdische Gemeinde Duisburg-Mülheim/Ruhr-Oberhausen
ist eine der größten in Nordrhein-Westfalen. Die Mitgliederzahl stieg von circa 100 in den 70er- und 80er-Jahren durch die Zuwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion seit Ende der 80er-Jahre auf heute rund 2800 Mitglieder. Seit 2001 residieren Synagoge und Gemeindezentrum am Springwall in einem von dem israelischen Architekten Zvi Hecker entworfenen Neubau. Zu den Höhepunkten des Gemeindelebens gehört das seit 2006 jährlich stattfindende »Fest des jüdischen Buchs« mit Lesungen bekannter Autoren.