Die Plätze reichen nicht aus, so viele Gäste sind am 30. August in die Friedrichstraße gekommen, um dieses besondere Jubiläum zu feiern: 15 Jahre Überlebenden-Treff der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST) mit Sitz in Frankfurt. In seinen Anfängen galt dieser Ort der Begegnung als Pilotprojekt, mittlerweile gibt es im Bundesgebiet insgesamt knapp 30 dieser Einrichtungen, alle sind sie stets gut besucht und für viele Überlebende eine wichtige Anlaufstelle.
Noemi Staszewski, Leiterin des Zentrums für Überlebende der Schoa und ihre Familien, und Jutta Josepovici, seit 2016 Leiterin des Sozialreferats der ZWST, begrüßen die zahlreichen Gäste, darunter Trude Simonsohn und Aviva Goldschmidt als Mitbegründerinnen des Treffs sowie die beiden Gemeinderabbiner Avichai Apel und Julian-Chaim Soussan, Rabbiner Andrew Steiman von der Budge-Stiftung und die Frankfurter Stadträtin Elke Sautner.
Familiengeschichte Für Jutta Josepovici ist der Treffpunkt auch ein Stück Familiengeschichte, denn für ihre Mutter war der Mittwoch mit dem gemeinsamen Kaffeetrinken und dem Nachmittagsprogramm für viele Jahre »der Höhepunkt ihrer Woche«, erzählt die Sozialpädagogin.
Auch Lili und Djordje Alpar, 94 und 95 Jahre alt, haben bisher kaum jemals einen Mittwoch ausgelassen. In wenigen Tagen feiern die beiden ihren 70. Hochzeitstag. Kennengelernt haben sie sich nach 1945 in Belgrad. Während des Krieges hatte Djordje dort als Partisan gegen Hitler gekämpft. »Bedrückt Sie die Erinnerung an das, was Sie durchgemacht haben?«, will ein Journalist wissen. »Immer mehr!«, antwortet Lili sofort und ohne nachzudenken. »Vor allem denke ich in letzter Zeit oft an das Leben, das wir vor dem Krieg geführt haben, und an die Menschen, die wir damals kannten.«
Der Treffpunkt: Von Anfang an ist er ein Ort gewesen, an dem die Trauer genauso ihren Raum fand und findet wie die Freude und das Lachen. Daran hat sich in den 15 Jahren nichts geändert. Vielleicht liegt es daran, dass die Menschen, die hier zusammenkommen, »eine gemeinsame Sprache sprechen, die man nicht erklären oder übersetzen kann«, wie Rabbiner Soussan meint. »Zwischen den Überlebenden herrscht ein Verständnis untereinander, das ein Außenstehender nie ganz wird nachvollziehen können.« Die Überlebenden eint es, Dinge gesehen oder erlebt zu haben, für die sich manchmal keine Worte finden lassen, und es eint sie die Erfahrung, daran nicht zerbrochen zu sein.
Lebensbejahend »Hier begegne ich keinen Überlebenden, sondern Menschen, die zum Leben ›Ja‹ gesagt haben«, sagt die frühere Frankfurter Integrationsdezernentin Nargess Eskandari-Grünberg in ihrem Grußwort. »Woher rührt diese Kraft?« Darauf hat Isidor Kaminer bis heute keine Antwort gefunden. Zusammen mit seinem Kollegen Kurt Grünberg gehört der Psychoanalytiker von Anbeginn an zum Betreuungsteam des Treffs. Wann immer der Wunsch oder das Bedürfnis bei jemandem aufkommt, zu sprechen, von dem Erlebten zu erzählen und sich dem Grauen zu stellen, sind die beiden präsent und hören zu.
»Ihr seht hin, wenn der eine oder andere trostbedürftig ist«, sagt Judith Brief, die an diesem Tag für die Überlebenden spricht, »und dafür danken wir euch.« Grünberg gibt den Dank zurück: »Wir haben hier die Bereitschaft erlernt, zuzuhören und da zu sein, wenn ihr uns braucht.« In einer sehr persönlich gehaltenen Rede schildert Kaminer seine eigene Kindheit und Jugend im Kreis von Menschen, die durch die Hölle des Konzentrationslagers gegangen sind. »Als ich das erste Mal einen Juden sah, der keine Nummer in den Unterarm tätowiert hatte, war ich verwirrt.« Von den Überlebenden habe er »das Wichtigste überhaupt gelernt: in schwierigen Situationen nicht in Hass zu verfallen und in den Abgrund zu stürzen, sondern weiterzumachen«.
Kaffeenachmittage Der allwöchentliche Kaffeenachmittag ist das eine. Doch gehört zum Angebot des Treffpunkts noch vieles mehr: »Malkurs, Gedächtnistraining, Qigong, Yoga, Konzerte, Vorträge, Ausflüge, Reisen, Ausstellungs- und Museumsbesuche«, zählt Judith Brief in ihrer Rede auf. »Dieses Programm hält uns fit!«
Vier Tage in der Woche ist der Treffpunkt geöffnet. Zu seinem professionell arbeitenden Team von Mitarbeitern gehören Fachkräfte der ZWST ebenso wie ehrenamtliche Helfer. Sie alle können sich in regelmäßigen Schulungen und Fortbildungen für diese anspruchsvolle Aufgabe weiterqualifizieren. Sie begleiten die Menschen auf Wunsch beim Arztbesuch oder Behördengang, machen Krankenbesuche daheim, helfen in akuten Krisen und in der schwierigen Übergangsphase, wenn ein selbstständiges Leben in der eigenen Wohnung nicht mehr möglich scheint und die Unterbringung in einer Einrichtung organisiert werden muss. Wer möchte, kann auch eine Rechtsberatung in Anspruch nehmen. »Die Zusammenarbeit zwischen und mit allen Institutionen klappt hervorragend«, berichtet Noemi Staszewski.
Vor allem aber wird im Treff viel gesungen und gelacht. Auch an diesem Nachmittag setzt sich jemand ans Klavier, greift einer zum Mikrofon und ein anderer zur Klarinette, klingen die ersten Takte eines traditionellen Liedes an, fallen alle ein und singen den Refrain mit. Wodka wird ausgeschenkt, Platten mit israelischen Köstlichkeiten machen die Runde. Es geht so lebhaft zu, dass man sein eigenes Wort kaum noch versteht. Trauer und Lebensfreude, beides liegt hier nah beieinander. Der Treffpunkt ist aber vor allem, wie jemand sagt, »ein sicherer Ort gegen die Einsamkeit«.