Leja Nemtsova begrüßt mich mit einem neugierigen Lächeln. Sie trägt eine rosa Bluse und liegt im Bett ihrer Wohnung in der AWO-Seniorenwohnanlage in Düsseldorf. Eine Frau, die mehr als ein ganzes Jahrhundert erlebt hat, sieht mich mit wachen Augen an, die auf einen klaren Verstand schließen lassen.
Am Donnerstag wurde Leja Nemtsova 105 Jahre alt. Sie hat das alte Russland erlebt, die Zeit des Zaren, die Revolution, den Ersten Weltkrieg, den Zweiten Weltkrieg, den Kalten Krieg, das Ende der Sowjetunion. Und das sind nur die großen historischen Ereignisse des letzten Jahrhunderts. Für Leja bedeuten sie lauter lebendige Erinnerungen: Flucht, Hunger, eisige Kälte, Angst, Krankheit, Sorge und – viele Neuanfänge. Sie ist eine Zeitzeugin par excellence.
Als ich sie frage, wie es ihr geht, lächelt sie müde. »Manchmal besser, manchmal schlechter«, sagt sie. Heute, an ihrem Geburtstag, geht es ihr besser. Margarita, Lejas Tochter, fügt entschuldigend hinzu: »Richtig gut geht es in dem Alter nicht mehr.«
flucht Leja Nemtsova wird am 18. Februar 1911 im weißrussischen Polozk geboren. Die gelernte Buchhalterin heiratet 1930 einen Künstler. Als die Stadt 1941 von den Deutschen bombardiert wird, hat das jüdische Ehepaar bereits zwei Kinder und flüchtet auf einem offenen Wagen gemeinsam in Richtung Osten, nach Sibirien.
Nach dem Krieg zieht die nun fünfköpfige Familie an die Krim, dort ist das Leben etwas leichter. Denn es gibt Essen, vor allem Obst. »Es war auch nicht so kalt wie in Sibirien«, erinnert sich die Tochter. Sie war damals fünf Jahre alt, ihre kleine Schwester erst zwei und die älteste zwölf. Das Ende ihrer langen Odyssee findet die Familie schließlich im ukrainischen Lwiw. Dort lebt Leja mit den Töchtern bis zu ihrem Umzug nach Deutschland im Jahr 1999.
Nach unserer Reise in ihre Lebensgeschichte und das vergangene Jahrhundert frage ich Leja, was ihr geholfen hat, nicht aufzugeben. Ihre Antwort ist klar: der Glaube.
glaube »Ich hatte ein schweres Los« erklärt sie und spielt damit nicht nur auf den Krieg, sondern auch auf einen Unfall in ihrer Kindheit an, bei dem sie schwere Verbrennungen erlitt, die bis heute gepflegt werden müssen. »Sicherlich hätten viele Menschen aufgegeben. Aber ich wusste, ich muss Geduld haben. Geduld und Glauben sind überlebenswichtig.« Ihre Mutter, erzählt Margarita, bedanke sich jeden Morgen, wenn sie die Augen öffnet, bei ihren Eltern und Gott für ihr Leben.
Leja erzählt, dass ihre Eltern sehr religiös gewesen seien. Ihre Mutter, sagt sie, habe früher »im Geheimen Mazzot gebacken«, in einer Zeit, »in der man nur ›Jude‹ sagen musste, um ins Gefängnis zu kommen«. Als ich sie frage, ob sie viel Antisemitismus erlebt hat, winkt sie nur müde ab.
Leja ist der älteste Mensch, den ich je getroffen habe, und einige brennende Fragen liegen mir auf der Zunge. Jede einzelne scheint sie zu belustigen, und sie amüsiert sich, wie sich wahrscheinlich nur eine 105-Jährige über die Fragen einer 19-Jährigen amüsieren kann.
liebe Ob sie die jungen Menschen von heute versteht, will ich wissen. Nach einem leisen Lächeln schüttelt sie bedauernd den Kopf: »Sehr schlecht.« Heute gehe es aus ihrer Sicht oft nur um Sex. »Das ist doch keine Liebe«, meint sie. Sie ist davon überzeugt: Es brauche echte Liebe zwischen Mann und Frau, Eltern und ihren Kindern und zwischen Freunden. »Und, ganz wichtig«, fügt Leja hinzu, »Liebe zu Gott.«
Was sie jungen Menschen in Sachen Liebe rät? Das Wichtigste, so weiß sie, ist natürlich, dass beide Vertrauen ineinander haben und nicht egoistisch sind. Aber eigentlich brauche es ihrer Meinung nach nur »Geduld, Glaube und etwas Verständnis«. So einfach sei das, meint sie und lacht.
Als ich sie frage, ob sie selbst gerne noch einmal jung wäre, verneint sie. »Dieses Leben war so schwer, ich kann mir kein anderes vorstellen – aber ein glücklicheres.« Sie habe als junger Mensch nicht viel Glück gesehen, erst jetzt erlebe sie es.
weisheit Ihr größtes Glück heute seien die drei Töchter und ihr Enkelkind. »Leider nur eins, aber Gott sei Dank, zumindest eins!« Stolz berichtet sie, dass ihr Enkel vor Kurzem endlich geheiratet habe. »Jetzt warte ich auf einen Urenkel.« Und Margarita fügt lachend hinzu: »Mama ist 105, wie lange muss sie noch warten?«
Wie wird man eigentlich 105 Jahre alt? Leja hat ihr ganzes Leben hart gearbeitet, deshalb glaubt sie, »Fleiß und Arbeit« seien das Geheimnis ihres hohen Alters. »Denn Arbeit hält jung.« Bringt das Alter Weisheit? Sie lacht. »Die Kunst ist es, weise zu bleiben und nicht dumm gemacht zu werden.«
Und was ist das Wichtigste? Das Wichtigste im Leben überhaupt? Leja muss nicht lange überlegen. »Freude daran zu haben«, sagt sie bestimmt. Ich hoffe, Leja hat noch lange Freude am Leben. Masal tov bis 120!