Die Lübecker Gemeindemitglieder müssen nicht mehr zum Beten in den Keller hinabsteigen, sondern zwei Etagen hinauf. Die Jüdische Einheitsgemeinde Lübeck konnte sich im ersten Stock ihres Bürodomizils neben der historischen und immer noch nicht abschließend restaurierten Carlebach-Synagoge einen hellen Betraum einrichten – mit Toraschrein und Bima, mit Bereichen für Frauen und Männer.
»Hier fühlen wir uns wohl«, sagt Mark Inger, Büroleiter der Gemeinde. Nicht so wohl fühlt sich der gebürtige Ukrainer, der in Hamburg wohnt, wenn er an den Fortgang der Restaurierung der Carlebach-Synagoge denkt. Zwar hatte die Gemeinde zur Schawuotfeier eingeladen, zu der auch Schleswig-Holsteins Kultur- und Bildungsministerin Karin Prien kam, doch konnte Alexander Olschanski, Vorstandsvorsitzender der Gemeinde, nur zeigen, dass die Synagoge jetzt ein funktionierendes wasserdichtes Dach, eine Heizung und einige Stützpfeiler mehr hat.
Restaurierungskosten Die 4,7 Millionen Euro für die weitere Restaurierung stehen zur Verfügung. 2,5 Millionen Euro davon kommen vom Bund, 1,2 Millionen Euro zahlt das Land Schleswig-Holstein, eine Million Euro steuert die Lübecker Possehl-Stiftung bei, um den vierten und letzten Bauabschnitt der 1878 im maurisch-byzantinischen Stil vom Lübecker Architekten Ferdinand Münzenberger errichteten und einzigen noch erhaltenen historischen Synagoge in Schleswig-Holstein fertigzustellen.
Das Geld für diesen vierten Bauabschnitt stellten Bund, Land und Stiftung bereits im November 2016 zur Verfügung. Doch es geschah – nichts. Bis heute. »Die Ausschreibungen laufen, und wir warten darauf, dass es endlich weitergeht«, sagt Alexander Olschanski.
»Ich gebe bei einem quasi öffentlichen Bauvorhaben keine schriftlichen Auskünfte«, sagt der zuständige Lübecker Architekt Thomas Schröder-Berkentien und verweist auf die Projekt-Koordinatorin, Diplom-Ingenieurin und Architektin Sandra Metzung-Körner. Doch auch sie sah sich bis jetzt außerstande, der Jüdischen Allgemeinen den Start für die Wiederaufnahme der Arbeiten und ein Zeitziel zu nennen.
Es fehlen noch Wände, Sanitär- und Sicherheitsanlagen, Büroräume, Ausbau der Frauenempore, und auch die Fenster sind nicht vollständig, ganz zu schweigen vom Aron Hakodesch und der Bima. »Existieren der historische Toraschrein und das Lesepult noch?« Weder Alexander Olschanski noch Mark Inger können die Frage beantworten. Immerhin hat die Gemeinde drei Torarollen und eine Esther-Rolle, die irgendwo würdig untergebracht werden müssen.
Stammen die Rollen aus der alten Synagoge? Auch das wissen Olschanski und Inger nicht. Sie mutmaßen aber, dass die letzten Lübecker Juden aus Angst, die Nazis könnten sie entweihen, ihre Torarollen auf dem alten jüdischen Friedhof in Lübeck-Moisling »anständig« beerdigt haben.
prachtbau Die Carlebach-Synagoge war mit 16 Metern Höhe, 32 Metern Länge und einem großen, lichtdurchfluteten Betsaal ein Prachtbau, der von einer stattlichen Kuppel gekrönt wurde, bevor die Nationalsozialisten sie zerstörten. In der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 zerstörten NS-Schergen Fassade, Kuppel und Innenausstattung, und nur die enge Wohnbebauung hinderte sie daran, das jüdische Gotteshaus an der St.-Annen-Straße niederzubrennen. Sie benutzten es als Turnhalle. Nach dem Krieg fühlte sich niemand für das wertvolle Gebäude zuständig. Es zerfiel. Obendrein verübten Neonazis am 25. März 1994 und am 7. Mai 1995 Brandanschläge auf das jüdische Gotteshaus.
Vor sechs Jahren allerdings, als die orthodoxe Lübecker Gemeinde rund 700 Mitglieder zählte – heute sind es etwa 650 – beschlossen der Vorstand mit Alexander Olschanski, seit November 2014 Vorsitzender, und der damalige Rabbiner Yakov Yosef Harety die Sanierung und konnten die Gremien der Stadt Lübeck dafür gewinnen. Die Possehl-Stiftung spendete damals 950.000 Euro. Daraufhin kamen vom Land Schleswig-Holstein eine Million Euro und vom Bund 880.000 Euro. Insgesamt soll die Sanierung 6,3 Millionen Euro kosten, finanziert von je einem Drittel Bund, Land und Stiftungen sowie aus Spenden als Eigenmittel. Mit drei Millionen Euro wurde das Ensemble trockengelegt, die Betonsockel wurden neu gegossen, neue Fenster eingesetzt und das Mauerwerk saniert.
Im Betsaal der Synagoge entdeckten Handwerker und Historiker kunstvoll bemalte Holzkapitelle, Wandmalereien und hebräische Inschriften in der Apsis. Die Frauenempore im ersten Stock hat pittoresk geschnitzte Balustraden. Zudem gibt es reichlich Platz für einen Kultursaal, Gemeinderäume, Sprechzimmer, Büro und Rabbinerwohnung und im dritten Stock für ein Jugendzentrum.
Welterbe Heute ist die Lübecker Altstadt mit der Synagoge Teil des Welterbes der UNESCO. Den Besuch der Kulturministerin werten Alexander Olschanski und Mark Inger als Signal der Hoffnung. »Diese Synagoge ist ein Ort des Erinnerns und zugleich ein Ort, in dem ein vielfältiges, modernes jüdisches Leben stattfindet«, sagte Karin Prien bei der Schawuotfeier und sicherte der Gemeinde die Unterstützung des Landes zu.
»Die Landesregierung hat es sich zum Ziel gesetzt, jüdisches Leben in Schleswig-Holstein noch mehr als bisher sichtbar zu machen, denn die jüdische Kultur ist ein Schatz, den wir hüten müssen«, sagte die Kulturministerin.
Mit Nathan Grinberg hat die Gemeinde Lübeck jetzt auch einen neuen Rabbiner gewonnen. Er kommt wie Büroleiter Mark Inger ebenfalls aus der Ukraine und wurde am 23. Mai in der Hamburger Synagoge im Beisein des aschkenasischen Oberrabbiners in Israel, David Lau, zum Rabbiner ordiniert. Grinberg hat seine Ausbildung am Hamburger Seminar von Chabad Lubawitsch unter der Leitung von Hamburgs Landesrabbiner Shlomo Bistritzky absolviert.
»Wir hoffen, dass wir eines Tages gemeinsam mit Rabbiner Grinberg sogar einen Kindergarten an unserer Synagoge einrichten können«, sagen Gemeindechef Olschanski und Büroleiter Inger. Doch erst einmal wartet auf Nathan Grinberg die immense Herausforderung, die Restaurierung der Carlebach-Synagoge zum Abschluss zu bringen.