»Richtig krass. Nach 70 Jahren.« Der Oberstufenschüler ist von dem Foto beeindruckt. Mehrere ältere Menschen sind darauf zu sehen, die sich in viel zu enge Schulbänke quetschen und mit strahlenden Gesichtern in die Kamera schauen. Sie sind ehemalige Schüler des Philanthropins in Frankfurt, die sich nach vielen Jahren, Flucht, Vertreibung und Emigration zum ersten Mal in ihrer früheren Schule wiedersehen.
»Oder schau mal hier!« Ein Freund deutet auf ein anderes Bild: Ein Großvater geht Hand in Hand mit seinem Enkel an einem Bahngleis entlang. Er will ihm den Ort zeigen, an dem er seine Mutter das letzte Mal gesehen hat. Hier hat sie ihn damals in den Zug gesetzt, der ihn nach Israel in Sicherheit bringen sollte. Die Mutter überlebte nicht.
Schabbatregeln Einige Meter weiter diskutieren einige Schüler lebhaft: »Am Schabbat darf man nicht fotografieren«, erläutert Rafael Herlich gerade, »das wäre auch Arbeit.« »Aber dürfte ich als Nichtjüdin denn Bilder machen?«, will ein Mädchen wissen. Herlich ist an diesem Morgen sehr gefragt.
Der Fotograf freut sich. Genau diese Reaktion auf seine Bilder hat er sich gewünscht: »Jüdisches Leben im Dialog – ein Schulprojekt« ist der Titel seiner neuen Ausstellung, für die Herlich Streiflichter aus dem Alltag, Impressionen von Festen und Feiertagen, Bilddokumente von offiziellen Anlässen und private Momentaufnahmen ausgewählt und zusammengestellt hat.
Im Heinrich-von-Gagern-Gymnasium werden diese Fotos zurzeit zum ersten Mal gezeigt, worin, wie Schulleiter Thomas Mausbach erläuterte, ein »besonderer Sinn« liege. Denn auf dem Areal befand sich früher die Samson-Raphael-Hirsch-Schule, benannt nach dem Begründer der Neoorthodoxie in Deutschland. Es sei ihm äußerst wichtig, betonte Mausbach, dass seine Schüler, die unterschiedlichen Glaubensrichtungen angehörten, wüssten, »was dem anderen wichtig ist«.
Hinsehen Aber um das zu erkennen, muss man genau hinsehen. Das empfahl die Frankfurter Stadträtin für Integration, Nargess Eskandari-Grünberg. Ihr Dezernat unterstützt die Ausstellung, die im nächsten Jahr noch an anderen Frankfurter Schulen gezeigt wird. Die Bilder zeugten von »Stolz und Schmerz, vom Selbstbewusstsein und von den Selbstverständlichkeiten« der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland.
Dass es nicht selbstverständlich ist, dass es hier, »im Land der Mörder«, überhaupt wieder jüdisches Leben gibt, darauf wies Doron Kiesel, Professor für Interkulturelle Pädagogik an der Fachhochschule Erfurt, hin. Nach dem Zivilisationsbruch durch die millionenfache Vertreibung und Vernichtung befinde sich das Judentum in Deutschland noch immer auf dem Rückweg zur Normalität, und diesen Weg, seine Rückschläge und Fortschritte dokumentiere Herlich seit 30 Jahren mit seiner Kamera.
Ganz normal Seine Momentaufnahmen teilten dem Betrachter mit: »Guck mal, wir sind wieder da. Wir leben, wir feiern, wir tun alles, was andere auch tun.« Diese Botschaft sei wichtig, denn jeder mache sich ständig ein Bild von »den anderen«, und zwar fast immer ein falsches.
Genau diesen unverfälschten Einblick in das heutige jüdische Leben wollen Herlichs Fots vermitteln. Deren Ausstrahlung ein Lehrer so zusammenfasste: »ungezwungen und positiv«.