Frau Knobloch, muss im Januar 2015 ein in München lebender Jude Angst haben, weil er Jude ist?
Angst ist ja ein sehr subjektives Empfinden, das sich nicht einfach in gewünschter Weise beeinflussen lässt. Insofern kann ich die Frage auch nicht in jedem einzelnen Fall beantworten. Aber ich verstehe es und kann gut nachvollziehen, wenn ein Jude Angst hätte – ganz besonders jetzt nach dem brutalen Ausbruch offenen Hasses in Paris.
Mehr als 8000 Juden haben im vergangenen Jahr Frankreich bereits verlassen, noch mehr planen ihre Flucht. Zeichnet sich etwas Ähnliches auch bei uns ab?
Es gibt bei uns keine Ausreisewelle, aber natürlich befassen sich Menschen in Deutschland, denen Rufe wie »Judenschweine« oder »Juden ins Gas« entgegengeschleudert werden, die mit physischen Übergriffen zu rechnen haben, die sich als unerwünscht fühlen müssen, mit solchen Gedanken. Und zwar heute häufiger und intensiver als früher. Ich weiß, dass auch in der IKG München immer mehr Menschen eine »Flucht« in Erwägung ziehen. Diese Entwicklung macht mir Sorgen, denn es geht ja nicht allein um die Juden. Antisemitismus, Ausgrenzung und ideologisch verbrämter Hass sind eine Gefahr für die Freiheit und die Demokratie, die wir Deutsche alle so sehr lieben.
Demokratie war für die Attentäter von Paris keine Option. Ihnen ging es um die mörderische Umsetzung der islamistischen Ideologie …
... die dazu führt, dass die Redakteure des Satiremagazins »Charlie Hebdo« ermordet wurden, weil sie islamkritische Karikaturen veröffentlicht haben, der Polizist, weil er seinem Dienst nachkam, und Juden, weil sie Juden waren. Ob die ermordeten Juden französische Staatsbürger waren, amerikanische oder polnische, spielte keine Rolle. Das »Etikett« Jude reichte vollkommen aus.
Ist der Antisemitismus generell wieder auf dem Vormarsch?
Der Antisemitismus, der uns heute entgegenschlägt und der maßgeblich von den Dschihadisten und ihren Unterstützern befeuert wird, hat bedrohliche Ausmaße angenommen. Diese Entwicklung wurde auch nach Deutschland getragen, als wir im vergangenen Sommer erleben mussten, wie der Hass auf Juden alle Dämme sprengte.
Menschen weltweit haben die Anschläge zum Anlass genommen, um für Freiheit, Demokratie und Toleranz zu demonstrieren. Viele Staatsmänner schlossen sich an, und auch muslimische Verbände verurteilten die Morde. Diese breite Allianz müsste doch Hoffnung machen.
Natürlich nehme ich das wohlwollend zur Kenntnis, keine Frage. Ich habe nur meine Zweifel, dass es in der langen Reihe jener, die mit untergehakten Armen für freiheitliche Werte auftreten, alle so ernst meinen, wie sie es darstellen. Es steht außer Frage, dass die überwältigende Mehrheit der Muslime Krieg, Mord und Gewalt verabscheut. Aber man muss schon auch sehen, dass Islamisten und Gotteskrieger nicht in einem luftleeren Raum schweben und sich quasi von selbst zum mordenden Märtyrer entwickeln. Das geht nur, wenn bestimmte Strukturen existieren, die das fördern.
Haben Sie den Eindruck, dass die deutschen Sicherheitsbehörden zu wenig tun, um den Extremismus einzudämmen?
Ich erkenne Umdenkprozesse, aber bisher hatten Extremisten ein zu leichtes Spiel. Die Erkenntnisse in Zusammenhang mit den Serienmördern vom Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) haben in erschreckender Weise gezeigt, dass es bei uns gewachsene professionelle rechtsextremistische Strukturen gibt. Das ist nicht neu, nur viele haben sich dieser Erkenntnis verschlossen. Mal ignorant, mal naiv, zuweilen aber auch ganz bewusst. Entschlossenes staatliches Durchgreifen ist allerdings nur ein notwendiger Aspekt.
Was ist darüber hinaus ebenfalls wichtig?
Wir brauchen auch neue Strategien, wenn es um die Ideologie in den Köpfen geht. Extremes Gedankengut lässt sich nur im Dialog ausräumen und setzt einen gesamtgesellschaftlichen Kraftakt voraus. Dringend notwendig wäre er im vergangenen Sommer gewesen, als der Antisemitismus in einem Ausmaß explodierte, wie ich es mir nicht vorstellen konnte. Damals erlebte ich leider nicht den lauten Aufschrei vieler, von denen ich es erwartet hätte. Und das in Deutschland mit seiner Geschichte! Ich möchte auch nicht in einer Gesellschaft leben, die ständig von Zivilcourage redet, aber in dem Moment, in dem es darauf ankommt, den Kopf in den Sand steckt, anstatt Gesicht zu zeigen. Toleranz darf nicht mit Blindheit verwechselt werden.
Blind gegenüber Extremisten?
Blind gegenüber deren Ideologien. Anders ist es doch nicht zu erklären, dass unsere Gesellschaft zulässt, dass sich konträr zu unserer freiheitlich-demokratischen Werteordnung eine Gedankenwelt, eine Parallelgesellschaft etabliert hat, in der nicht unsere rechtsstaatlichen Normen der Maßstab sind, sondern die Scharia.
Zur Geschichte gehört, dass sich in diesen Tagen die Befreiung von Auschwitz, der scheußlichste Auswuchs der Nazi-Doktrin, zum 70. Mal jährt. Mehr als 20 Prozent der unter 30-Jährigen können mit diesem Begriff nichts anfangen, ergab eine aktuelle Umfrage. Erschreckt Sie das?
Diese Offenbarung trauriger Defizite in unserer politischen Kommunikation und unseres Bildungsapparates überrascht mich zumindest nicht. Das Schlimme dabei ist, dass man das nicht einfach unter der Rubrik »Bildungsdefizit« abhaken kann. Die Zahl der Nichtwissenden lässt sich leicht mit einem Expertenbericht der Bundesregierung zum Antisemitismus verknüpfen. Aus dem geht hervor, dass Judenfeindlichkeit und Rassismus vor allem dort vorkommen, wo Unkenntnis herrscht.
Was bringen Sie, eine in Deutschland geborene Jüdin, die die Schoa überlebt hat, mit dem Namen Auschwitz in Verbindung?
Auschwitz ist Auschwitz. Das ist eine eigene Dimension. Es gibt nichts Vergleichbares. Auschwitz ist ein monströser Teil der Schoa, der kalt geplanten und industriell betriebenen Ermordung der europäischen Juden. Der größte Zivilisationsbruch in der Menschheitsgeschichte, präzedenzlos, singulär, unvorstellbar bis heute. Für mich persönlich begann Auschwitz am 9. November 1938, in der »Reichskristallnacht«, als ich an der Hand meines Vaters durch München taumelte, vorbei an zerstörten Geschäften, dem Rauch über der Synagoge, aber auch vorbei an tatenlosen Zuschauern, an teilnahmslosen Gaffern. Ich, das kleine Mädchen, verstand nichts und doch alles. Die Tränen, die ich damals vergossen habe, begleiten mich mein ganzes Leben.
Das Gespräch führte Helmut Reister.