Rostock

Czernowitz an der Ostsee

Elka sitzt im Schaukelstuhl und versteht die Welt nicht mehr. Ihre beiden Söhne, Aaron und Pessach, entwickeln sich so ganz anders, als sie es gewollt hatte. Die junge Generation geht ihren eigenen Weg. Das soll sinnbildlich für den Wunsch des jüdischen Volkes nach Freiheit stehen. Mutter Elka symbolisiert die jüdische Tradition. Den Kampf zwischen diesen jüdischen Werten trägt Marina Beitman emotional auf der Bühne aus. In Elkas Gold von Jossef Bar Jossef spielt sie die mal verzweifelte, aber zugleich kämpferische Titelfigur. Für Marina Beitman ist es eine ihrer schönsten Rollen am Rostocker Theater »Mechaje«, dem einzigen jüdischen Theater in Mecklenburg-Vorpommern.

Unterstützung Steht die 52-Jährige gerade nicht auf der Bühne, kümmert sie sich um Requisiten, macht Skizzen für Kostüme und schult den potenziellen Nachwuchs. Dieser vielfältige Einsatz sei ganz selbstverständlich bei einem Schauspielhaus mit kleinem Budget, sagt Beitman. »Wir möchten den Menschen etwas bieten: gute jüdische Unterhaltung«, betont die Schauspielerin. Unterstützung bekommen sie und ihr Mann Michael Beitman-Korchagin, Regisseur und Leiter des Hauses, vom Zentralrat der Juden, vom Land und von der Hansestadt.

In den letzten 15 Jahren seit Gründung des Theaters seien mit jeder Spielzeit mehr Fans dazugekommen, erzählt Michael Beitman-Korchagin stolz: »Wir haben uns weiterentwickelt, um ein großes Spektrum jüdischer Kultur und Kunst vorzuführen.« Mit reinem Schauspiel wurde 1997 gestartet, damals noch mit Laiendarstellern. »Für ein jüdisches Theater mussten sie von uns mit einem entsprechenden Studium ausgebildet werden«, erzählt Beitman-Korchagin, der mit seiner Frau die Idee für »Mechaje« in langen Sitzungen entwickelte und das Theater gründete. Konzerte kamen hinzu, die seit drei Jahren im Musik-Theater-Salon zu sehen sind.

Zu 80 Prozent wird auf Russisch aufgeführt, unter anderem im Saal des Theaters im Stadthafen. »Dialoge und Lieder sind außerdem in jiddischer Sprache«, fügt der gebürtige Ukrainer hinzu. Wer im Publikum diese Sprachen nicht versteht, bekommt über Kopfhörer eine deutsche Simultanübersetzung. Doch um Mimik und Gestik durch »die typische Intonation im jüdischen Theater«, wie Marina Beitman es nennt, zu fühlen, braucht man keine Übersetzung.

Tradition Mit der Ausbildung und vor dem Hintergrund einiger Darsteller ist das auch kein Wunder. Marina und ihr Mann, den sie liebevoll Mischa nennt, kommen nicht einfach aus der ehemaligen Sowjetunion. Sie stammen aus dem heute ukrainischen Czernowitz, einer über die Landesgrenzen hinaus für ihre Kulturtradition bekannten Stadt. Beitman-Korchagin, der Regie in Kiew studiert hat, gerät ins Schwärmen über diese »wundervolle, bedeutende Stadt«. Sie sei der wichtigste jüdische Ort vor dem Zweiten Weltkrieg gewesen. 60.000 Juden lebten laut Beitman-Korchagin in der Stadt, die damals noch zu Österreich-Ungarn gehörte.

Aus Czernowitz stammen Persönlichkeiten wie die Lyriker Paul Celan und Rose Ausländer, die Schriftsteller Aharon Appelfeld und Klara Blum sowie die junge Hollywood-Schauspielerin Mila Kunis, die neben Natalie Portman in Black Swan glänzte. Auch Marina Beitman hat nach ihrem Theaterstudium in Moskau in der Stadt gespielt. »Die Tradition von Czernowitz haben wir mitgebracht, als wir 1996 nach Rostock kamen«, sagt der 53 Jahre alte Beitman-Korchagin. Und die Einflüsse der Stadt im Karpatenvorland sind heute präsenter als je zuvor für ihn und das Theater. »Wir wollen ein Werk schaffen, das von künstlerisch tätigen Juden handelt, die aus Czernowitz kommen.«

Noch sechs weitere Akteure gehören zur Stammbesetzung. Sie sind gemeinsam auf Gastspielen im In- und Ausland unterwegs, geben außerdem Theaterworkshops in Gemeinden in ganz Deutschland. Einige spielen in Filmen mit. Und an einem Ritual hält ein Teil der Truppe auch während der nunmehr 15. Spielzeit fest: An Schabbat geht es in die Synagoge der Stadt. Religion ist vor allem Marina sehr wichtig. Die gebürtige Russin hat das Judentum mehrere Jahre studiert. »Meine Vorfahren waren Juden. Jetzt bin ich konvertiert, genau wie meine Tochter«, sagt Marina über den für sie wichtigsten Schritt in ihrem bisherigen Leben.

Zirkus Zur jüdischen Gemeinde in Rostock, deren Räume sich in einem Haus mit der Synagoge befinden, bestehe eine besondere Verbindung, wie der Theaterleiter sagt. »In der ersten Zeit haben wir dort gespielt«, erinnert sich Beitman-Korchagin. Dann seien sie umgezogen in die Lange Straße, nahe der Warnow gelegen. Man habe mehr Platz gebraucht. Dank eines »Freundschaftspreises« der Wiro, einer Rostocker Wohnungsgesellschaft, sei die Miete finanzierbar, erklärt Beitman-Korchagin.

Der Kellerbereich, wo Tanz und Musik aufgeführt werden, wurde vergrößert. Von Nikolai Glasner, der eigentlich für die Technik des Theaters zuständig ist. »Ich habe es gemütlicher machen wollen. Also habe ich nicht nur umgebaut, sondern gleich noch eine Bar dazu errichtet«, sagt der vielseitige Mitarbeiter. Die Renovierung des Gebäudes haben die Theaterleute über Benefizkonzerte finanziert – nichts Besonderes. Schließlich müsse jedes Schauspielhaus die Cents umdrehen, sagt der Mechaje-Chef gelassen.

Vergnügen Statt finanzieller Nöte spiele ja etwas anderes die Hauptrolle. Denn »Mechaje« heißt übersetzt so viel wie »Vergnügen«, und das will das Ensemble dem Publikum bieten. Neben dem Theater soll das Projekt »Zirkus Wölkchen« für ebenjenes Vergnügen sorgen. Hier werden Kinder ab sechs Jahren von Marina Beitman in verschiedenen Zirkusgenres ausgebildet.

Doch die meiste Zeit investieren die Mechaje-Mitglieder gerade in die Vorbereitungen für das große Festival zum 15. Jahrestag. »Großes, Einzigartiges« verspricht der Regisseur. Vom 22. bis 27. Oktober dürfen sich Rostocker und alle anderen Besucher auf Gastspiele verschiedener jüdischer Künstler freuen. Am 28. und 29. Oktober wird mit Vorstellungen und großer Gala noch einmal richtig gefeiert. Zuvor geht am 2. September die Jubiläumsspielzeit los. Dann sitzt Marina Beitman auf der Theaterbühne wieder als »Elka« zwischen Verzweiflung und Mut im Schaukelstuhl.

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