Rund 50 Zuhörer sind am 15. September in die Braunschweiger Synagoge gekommen. Renate Wagner-Redding hält einen Vortrag über jüdische Feiertage. Um 19 Uhr geht sie an die Bima, davor steht ein Tischchen mit Ritualgegenständen: Schabbatleuchter, eine Ratsche, Dreidel und Kidduschbecher. Auch ein Schofar liegt dort. »Blasen kann ich es aber nicht, das benötigt viel Luft und eine besondere Technik«, erklärt die Gemeindevorsitzende und spielt zur Illustration die drei unterschiedlichen Schofartöne aus dem Computer vor. In einer Stunde hat sie die Gäste launig, klar und faktenreich durch das jüdische Festjahr geführt.
Synagogen- und Friedhofsführungen, Vorträge oder Treffen mit Lokalpolitikern – der Terminkalender der Gemeindevorsitzenden ist voll. In diesem Jahr sind es wegen des zehnjährigen Jubiläums der Synagoge mehr Veranstaltungen als sonst. »Das Interesse an Führungen hat enorm zugenommen«, sagt Wagner-Redding.
Sie ist eine Frau der klaren Worte: »Es gefällt vielleicht nicht allen, was ich mache«, sagt sie. Doch Missverständnisse, die zu Unmut führen können, versucht sie so schnell wie möglich aus dem Weg zu räumen, »spätestens am nächsten Tag oder vor dem nächsten Schabbat«. »Ganz falsch kann ich aber nicht liegen«, sagt sie lächelnd, »schließlich wählen sie mich seit 23 Jahren immer wieder.«
beruf Bei ihrem Amtsantritt 1993 hatte die Gemeinde 35 Mitglieder, heute sind es knapp 300. »Zu Hohen Feiertagen und am Schabbat fuhren wir anfangs nach Hannover«, so Wagner-Redding. Zunächst fanden Gottesdienste nur sporadisch statt, dann einmal im Monat und jetzt jeden zweiten Schabbat. Schließlich hatte die Gemeinde mit Jonah Sievers auch ihren eigenen Rabbiner.
Wagner-Redding hat gelernt, sich durchzusetzen, wie sie es auch im Beruf musste. Nach dem Abschluss der höheren Handelsschule ging sie zur Post ans Fernmeldeamt und wurde »das Fräulein vom Amt«. Zuletzt arbeitete sie in der Finanzabteilung. Als es Umstrukturierungen im Amt gab, sagte Wagner-Redding »Nein« und schied mit 55 Jahren als Beamtin aus dem Dienst aus.
Als die nur knapp 20 Quadratmeter große Synagoge zu klein für die wachsende Beterschaft wurde, entschied Wagner-Redding, den Innenhof zu nutzen und dort eine Synagoge bauen zu lassen. Vor zehn Jahren wurde sie eingeweiht. Klare Linien bestimmten den Bau, entsprechend dem Formgefühl der Hausherrin, die Jugendstil und Bauhaus liebt. Gespendet hatten auch viele Honoratioren der Stadt sowie Freunde.
orden »Meine beste Freundin war jedoch meine Mutter.« Das Verhältnis war innig, seit der Geburt. »Ich kam um 9.45 Uhr an Jom Kippur 5707 zur Welt, ich war eine Hausgeburt. Als alle Familienmitglieder sahen, dass es Mutter und Tochter gut ging, verabschiedeten sie sich und gingen in die Synagoge, und wir hatten endlich Zeit für uns«, beschreibt Wagner-Redding ihren ersten Tag, als könnte sie sich selbst daran erinnern.
Mutter Ruth wird es ihr häufig erzählt haben. Die besondere Beziehung zwischen ihnen blieb bis zum Tod von Ruth Wagner-Redding 2014 bestehen. Jedes zweite Jahr flogen sie zusammen nach Israel. Ruth hat ihrer Tochter ihren leisen Humor und ihre Bodenständigkeit vererbt. Eigenschaften, die Renate Wagner-Redding neben ihrer Geradlinigkeit Respekt und Anerkennung einbrachten. 2012 erhielt sie für ihr langjähriges Engagement für die jüdische Gemeinschaft und die christlich-jüdische Verständigung das Bundesverdienstkreuz am Bande.
Wagner-Redding trägt ihren Verdienstorden nur selten. »Aber zum Neujahrsempfang werde ich es wohl müssen.« Der wird in diesem Jahr ausnahmsweise mit dem Jubiläumsfest der Synagoge zusammen am 7. Dezember stattfinden. Zuvor feiert Renate Wagner-Redding am 5. Oktober erst einmal ihren 70. Geburtstag.