Porträt der Woche

»Bücher sind mein Zuhause«

Susanne Simor arbeitet für einen Verlag und lebte als Kind in Budapest

von Katrin Diehl  23.06.2019 06:55 Uhr

»Meinem Großvater verdanke ich meine Liebe zur Literatur«: Susanne Simor (56) lebt in München. Foto: Christian Rudnik

Susanne Simor arbeitet für einen Verlag und lebte als Kind in Budapest

von Katrin Diehl  23.06.2019 06:55 Uhr

Es macht mir großen Spaß und gehört tatsächlich auch zu meinem Leben, hinein- und abzutauchen in die Welten anderer Menschen. Ich anverwandle mir Inhalte, Geschichten, übersetze sie in meine Sprachen. Italienisch, Französisch und Englisch sind neben Ungarisch und Deutsch zu meinen zweiten, dritten, vierten und fünften Muttersprachen geworden. Bücherwelten geben mir eine Art Zuhause. Für die spirituelle Verankerung sorgt mein Judentum. Beides hat sehr viel mit meiner Kindheit, hat sehr viel mit meinem Großvater zu tun.

Geboren wurde ich 1963 in Budapest, und zwar am 8. Mai, dem Tag der Befreiung. In Ungarn herrschte strengster Kommunismus, was für mich als kleines Mädchen eine etwas skurrile Lebenssituation zur Folge hatte.

Einerseits war ich irgendwie ständig in der Dohány-Synagoge, diesem wunderschönen und unglaublich großen Gotteshaus, verbrachte dort wie selbstverständlich alle jüdischen Feiertage. Der Grund dafür lag auf der Hand: Der Oberrabbiner dieser Synagoge, Heinrich Fisch, war niemand anderer als mein sehr geschätzter wie hoch verehrter Großvater.

Meine Mutter und meine Großmutter hatten dank Raoul Wallenberg überlebt.

Das ist die eine Seite. Auf der anderen Seite war es mir außerhalb der eigenen vier Wände strikt verboten, das Wort »jüdisch« – was auf Ungarisch »zsidó« heißt – auch nur in den Mund zu nehmen. Das muss man sich einmal vorstellen! Und deshalb erlegte es sich meine Familie kurzerhand auf, auf dieses Wort »zsidó« vollständig zu verzichten, es nicht, auch nicht unter Freunden oder in der eigenen Wohnung, wo doch immer so viele jüdische Gäste ein- und ausgegangen sind, auszusprechen.

Vor lauter Angst, dass ich, das kleine Kind, diese gefährlichen fünf Buchstaben aufschnappen und nach draußen tragen könnte. Das Judentum, so wie ich es mitbekommen habe, war also sehr präsent und musste dennoch irgendwie geheim gehalten werden.

ZWIESPALT Dieser Zwiespalt hat etwas hinterlassen in mir. Ein feines Gespür und eine Empfindlichkeit. Vor einigen Jahren hatte ich Chanukka einmal in Ein Gedi verbracht. Voller Begeisterung und Staunen sah ich da die Kinder und Erwachsenen, sah, wie sie voller Freude mit Laternen und gemeinsamem Gesang durch den ganzen Kibbuz gezogen sind. Dass sie so offen miteinander gefeiert haben, das hat mich bewegt und zu Tränen gerührt.

Von meinem Großvater also, sprachlich begeisterter Oberrabbiner der Großen Budapester Synagoge, habe ich meine Begeisterung für Bücher mitbekommen. Habe ich meine Großeltern besucht, durfte ich zum Spielen in deren Bibliothek.

Wahrscheinlich hat mich die Atmosphäre, die von den vielen gelehrten und wunderschönen Buchbänden ausgegangen ist, schon damals spüren und wissen lassen, dass wahres Glück mit Büchern zu tun haben muss. Wann immer es mir zu eng geworden ist zu Hause, war es die Literatur, die mir eine andere Welt geöffnet, die mir eine neue Dimension aufgezeigt hat, zu leben, zu denken und zu sein.

SPRACHEN Meinem Großvater verdanke ich auch, dass es Sprachen waren, die mir den Weg durch mein Leben gewiesen haben. Oft hat er mir als Mädchen eine Ge-schichte erzählt von so einem alten Juden mit langem Bart, der Ordnung schaffen wollte in der Welt der Wörter.

Mein Großvater war der frühere Oberrabiner von Budapest.

Von meinem Großvater, der neben seiner Muttersprache Jiddisch auch Ungarisch wie Althebräisch, Altgriechisch und Latein beherrscht hat, bin ich in Grammatik unterwiesen worden, sodass ich später, am Münchner Gymnasium, in diesem für mich noch neuen Land Deutschland, in das wir Anfang der 70er-Jahre eingewandert waren, im Handumdrehen im Fach Latein Klassenbeste wurde.

Ein Mädchen von neun Jahren bin ich gewesen, als ich zusammen mit meiner Familie Ungarn verlassen habe, einer Familie, die während der Schoa viele Mitglieder verloren hatte. Mein Großvater verlor seine damalige Frau und sein Kind. Er hat meine Mutter adoptiert, die wiederum ihren Vater verloren hatte. Meine Mutter und meine Großmutter haben dank Raoul Wallenberg überlebt.

ZUHAUSE 20 Jahre später im kommunistischen Ungarn waren wir als Juden wieder Schikanen ausgesetzt. Unser Verlangen nach einer freien Welt wurde immer größer. Wir wollten dorthin, wo man nicht verheimlichen musste, dass man jüdisch war. Und dann ging es endlich los. Allerdings konnten wir uns bis zur letzten Minute nicht sicher sein, ob man uns nicht doch noch »kassieren« würde. Es sind ja damals wirklich Menschen verschwunden.

Ich erinnere mich, wie nervös alle waren. Da gab es auch diesen riesigen, langen Tisch voller liturgischer Dinge, Menorot, Schabbatgläser, Kerzenleuchter, und da kam dann ein uniformierter Mensch und hat ihnen jeweils einen Stempel aufgedrückt.

Wenn irgendwo Schabbat gefeiert wird, dann bin ich genau dort für diesen Moment zu Hause.

Diese »Dinge« sind jetzt bei mir in meiner Wohnung. Neben Freundinnen und Freunden sind diese Gegenstände so etwas wie mein Zuhause. Denn das ist am Ende dann doch nicht wirklich Deutschland, Bayern, München. Mein Zuhause hängt an Erinnerungen. Und egal, wo ich mich auch befinde, wenn irgendwo Schabbat gefeiert wird, dann bin ich genau dort für diesen Moment zu Hause, und mich packen starke Gefühle.

Dabei setze ich mich nie unter Druck, verlange von mir nicht, dies oder das zu tun, diese oder jene Regel einzuhalten. Wenn ich möchte, gehe ich hier in München in die Synagoge von Beth Shalom, wenn ich möchte, in die am Jakobsplatz.

In Deutschland ist es ja oft so: Sobald man sagt, dass man jüdisch ist, wird gleich danach gefragt, ob und wie man das praktiziert, eine Frage, die ich nie ganz verstanden habe. Denn Jüdischsein ist für mich mehr als praktizierte Religionsausübung. Es ist eine Art zu denken, ist der Mut, anders zu denken, ist der Mut zu widersprechen.

FREIHEIT In die westliche Freiheit zu gelangen, hatte für uns damals etwas Paradiesisches. Auch Israel wäre als Ziel möglicherweise infrage gekommen, allerdings war meinem Großvater der Gedanke, dass ich da dann zum Militär und vielleicht in den Krieg gemusst hätte, unerträglich gewesen. So wurde es Deutschland.

Erste Station war Berlin. Wir sind recht schnell als politische Flüchtlinge anerkannt worden, weil sich mein Großvater als Oberrabbiner der Dohány-Synagoge geweigert hatte, mit der Regierung zu kollaborieren. Zensierte Reden zu halten, das kam für ihn nicht infrage. Nach Berlin folgten andere Städte, sodass ich so alle drei Jahre die Schule wechseln musste. Als Erwachsene und Studentin der Romanistik und Germanistik habe ich mich am Ende für München entschieden, wo ich jetzt doch schon ein paar Jahre lang lebe und als Foreign Rights Manager im C.H.-Beck-Verlag arbeite.

Ich bin so etwas wie eine internationale Botschafterin meines Verlages im Ausland, ich vertrete dort unsere Autoren und kümmere mich darum, dass sie in möglichst viele Sprachen übersetzt werden.

Was ich tue, den täglichen interkulturellen Austausch, empfinde ich als ein Privileg.

Was ich tue, den täglichen interkulturellen Austausch, empfinde ich als ein Privileg. In einer Zeit, in der die Nationalismen wieder so schroff hervorgekehrt werden, kommt der Vermittlung zwischen Kulturen eine wichtige Rolle zu, wie eben auch der Übersetzung von Büchern. Übersetzungen können herausführen aus der Enge hausgemachter Vorstellungen.

SCHNORCHELN Neben der Arbeit sind Freundschaften für mich sehr wichtig. Und die suche ich sicherlich nicht danach aus, ob jemand jüdisch ist oder nicht. Herzlichkeit ist von Bedeutung, und ob ich mich aufgenommen fühle auch als Jüdin.

Verschiedene Hobbys habe ich natürlich auch. Langstreckenschwimmen gehört dazu. Das lässt sich ja in den Seen rund um München ganz gut pflegen. Ich bin zum Beispiel auch immer bei der Starnberger Seeüberquerung dabei. Das sind vier Kilometer. Vier Kilometer misst auch meine Trainingsstrecke im Tegernsee. Zwischen den Jahren reise ich oft nach Israel. Eine Woche Kibbuz und eine Woche Eilat. Zum Schwimmen und Schnorcheln.

Außerdem tanze ich sehr gerne, am liebsten lateinamerikanische Tänze, mache in der Mittagspause ab und zu Zumba in einem Sportklub um die Ecke. Schwierige Termine lege ich mir manchmal tatsächlich ganz gerne nach so einer Tanz-Session, weil ich da einfach dynamischer bin. Ich habe dann so richtig Power und kann loslegen.

Aufgezeichnet von Katrin Diehl

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