In mehr als 50 sächsischen Orten lassen sich Spuren der Novemberpogrome von 1938 nachweisen; Bruchstücke, zusammengesetzt aus lokalen Publikationen, Zeitungsartikeln, Fotos oder Zeugenaussagen. Sie ergänzen bekannte Berichte von den Ereignissen in Chemnitz, Leipzig, Dresden oder Görlitz und werden seit dem 14. Oktober im Heinz-Joachim-Aris-Saal der Jüdischen Gemeinde Dresden gezeigt.
»In dieser neuen und hochinteressanten Ausstellung wird deutlich, dass auf dem Gebiet des heutigen Sachsen damals flächendeckend jüdische Menschen Demütigungen und Gewalt bis hin zu Mord, Festnahmen, Wohnungseinrichtungen- und Geschäftszerstörungen sowie Plünderungen ausgesetzt waren«, erklärte die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Dresden, Nora Goldenbogen.
»Die Ausstellung legt den Fokus auf Dresden und den ehemaligen Regierungsbezirk Sachsen. Im Mittelpunkt stehen, insbesondere auch in kleineren Orten, Verfolgte, Täter oder Zuschauer. Damit werden die Dimensionen dieser Verbrechen deutlicher als bisher«, so Goldenbogen weiter. Zu der Ausstellung ist auch eine Dokumentation erschienen.
Schocken So zum Beispiel in Frankenberg bei Chemnitz: Während das Kaufhaus Schocken von SA-Männern demoliert wird, gelingt dem jüdischen Arbeiterarzt Bruno Kochmann die Flucht, er war gewarnt worden. In Bautzen hingegen jagen aufgehetzte Bürger jüdische Familien durch die Straßen. Mehrere Männer werden festgenommen und nach Buchenwald gebracht. Am nächsten Tag wird der Betsaal der kleinen Israelitischen Gemeinde verwüstet.
In Zittau sprengen SA-Trupps die Synagoge und die Trauerhalle. In Großröhrsdorf bei Bischofswerda läuten in der Nacht zum 10. November die Kirchenglocken, als Curt und Regine Schönwald, die Eigentümer eines Textilkaufhauses, durchs Dorf getrieben werden. Der Direktor der Hauptschule Großröhrsdorf, Fritz Neumann, brüstet sich nach dem Pogrom vor seinen Schülern, dass man in dieser Nacht den Juden Schönwald herausgetrieben habe, um zu zeigen, was gerechter Volkszorn sei.
»Volszorn« In Wilthen bekommen Gertrud Joachimsthal und ihr kriegsversehrter Bruder Hugo Rosenthal diesen »Volkszorn« zu spüren. Mit einem Leiterwagen werden beide durch den Ort gezogen, begleitet von einer johlenden Menge. Festgehalten ist die Szene auf einem Foto. Der 9. November 1938 wurde von der NSDAP auch in Sachsen als »Tag der Bewegung« begangen, genau 15 Jahre nach dem Münchner Hitler-Ludendorff-Putsch.
In Chemnitz begann das Pogrom gegen 19 Uhr, nachdem sich Hunderte NS-Anhänger auf der Großkampfbahn zu einer Gedenkfeier für die vor 1933 getöteten Nationalsozialisten versammelt hatten. Wie überall stand es unter dem Eindruck des Pariser Attentats auf den Diplomaten Ernst vom Rath durch Herschel Grynszpan. Eine willkommene Gelegenheit, zuzuschlagen, so der Historiker Daniel Ristau, Kurator der Ausstellung und wissenschaftlicher Leiter des Projekts »Bruch/Stücke«.
»Schon bei den Veranstaltungen in den Gaststätten und Festsälen wurde gegen Juden mobil gemacht. Menschen wurden durch die Straßen getrieben, mit Schildern um den Hals, ›Saujude‹, ›Jude‹, ›Juda verrecke‹. Und dies unter großer öffentlicher Anteilnahme. Nichts, was versteckt stattgefunden hat.«
Prozess Einer der größten Antisemiten war der aus Plauen stammende Textilunternehmer Martin Mutschmann, Gauleiter der NSDAP in Sachsen. Schon 1931 hatte er in einer Rede prophezeit, dass eines Tages die Synagogen rauchen und der Tag einer »furchtbaren Abrechnung« kommen werde. In der sowjetischen Gefangenschaft nach dem Krieg hat er seine Beteiligung an den Pogromen eingeräumt. Er starb in der Haft. Nur wenige Täter mussten sich verantworten. Auch das ist dokumentiert.
Der Hauptteil zeigt das Leben der jüdischen Bevölkerung vor und nach der Machtübernahme der Nazis. 1925 lebten etwa 23.000 Juden in Sachsen, 90 Prozent von ihnen in den großen Städten Leipzig, Dresden und Chemnitz.
»Bruch/Stücke – Die Novemberpogrome in Sachsen 1938«. Hentrich & Hentrich 2018, Sächsische Landeszentrale für politische Bildung (ISBN 978-3-95565-279-1)