Kindertransporte

Bronia, Betty und Ruth

Bronia Schutz war drei Jahre alt, als ihr Vater im Oktober 1938 im Rahmen der »Polenaktion« Deutschland verlassen musste. Die Familie mit Bronia, ihren Schwestern Betty (9) und Ruth (13) lebte in Berlin in der Müllerstraße. Die Deportation des Vaters, kurze Zeit später die Novemberpogrome – auch die Kinder verstanden, dass sie nicht mehr länger in der Wohnung über der Schuhmacherwerkstatt des Vaters im Wedding bleiben konnten.

Ruth und Betty wurden aktiv. Sie fanden die Abfahrtsdaten für einen Kindertransport nach Belgien heraus. Nicht nur Großbritannien hatte sich nämlich unter dem Eindruck der Pogromnacht dazu entschieden, bedrohte jüdische Kinder aufzunehmen. Einen Tag nach dem britischen Unterhaus entschied auch das belgische Parlament am 22. November 1938, dass 1000 Kinder ins Land kommen konnten. Diese bis heute auch in Belgien kaum bekannte Rettungsinitiative ging von Justizminister Joseph Pholien aus.

VISUM Besonders aus dem Ruhrgebiet meldeten Eltern ihre Kinder an. Anders als bei den Transporten nach Großbritannien benötigten die Kinder hier bis zum Alter von zwölf Jahren kein Visum, sie wurden aber namentlich erfasst. Das Amt für öffentliche Sicherheit legte für jedes Kind eine Karteikarte an.

Bereits im März 1933 hatte Max Gottschalk, Vizepräsident der Brüsseler israe­litischen Gemeinschaft, ein Hilfskomitee für die Opfer des Antisemitismus in Deutschland gegründet. Daraus ging das »Comité d‹Assistance aux Enfants juifs refugies« hervor. Das suchte für elternlose Kinder in ganz Belgien Pflegefamilien. Die Transporte unterstanden der Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden in Berlin. Das belgische Rote Kreuz begleitete die Kinder im Zug.

Der erste Transport mit deutschen Kindern fuhr am 30. November 1938 vom Berliner Bahnhof Friedrichstraße ab. Ruth und Betty, die älteren Schwestern, hatten sich Fahrkarten zu ebendiesem Termin besorgt. Sie setzten sich zu den registrierten Kindern ins Abteil und gelangten mit der dazugehörigen List bei Grenzkontrollen nach Brüssel, dort kamen sie in das Waisenhaus in der Rue de Patriot.

ZETTEL Ihre Mutter war noch in Berlin, hatte aber die Möglichkeit, in London zu arbeiten. Eine verzweifelte Situation: Sollte sie auch ihre jüngste Tochter, die mittlerweile vierjährige Bronia, in ein Waisenhaus geben? Anfang August 1939 fuhr sie mit ihrem Kind von Berlin nach Brüssel in die Rue de Patriot, wo schon ihre zwei anderen Töchter waren. Sie bat Ruth, sich um ihre Schwester Bronia zu kümmern. Sie selbst fuhr weiter nach London.

Der erste Transport mit deutschen Kindern fuhr am 30. November 1938 vom Berliner Bahnhof Friedrichstraße ab.

Wie Bronias Mutter ging es vielen Juden in Deutschland. Verzweifelt suchten sie Fluchtmöglichkeiten. Da die Kapazitäten der Transporte begrenzt oder die familiäre Situation durch Verhaftungen der männlichen Familienmitglieder besonders angespannt waren, entschieden viele Eltern, ihre Kinder illegal über die »grüne Grenze« nach Belgien, in die Niederlande oder die Schweiz gehen zu lassen. Allein und oft nur mit einem Zettel um den Hals, auf dem die Adresse eines Waisenhauses in Brüssel, Antwerpen oder Ostende stand.

Mit dem Einmarsch der deutschen Armee im Mai 1940 wurden die deutschen Gesetze auch in Belgien angewandt. Alle Mädchen und Jungen, die 16 Jahre und älter waren, mussten sich zum Arbeitsein­satz in Mechelen in einer Kaserne melden. Für jüdische Jugendliche bedeutete das Deportation und Tod. 28 Transporte mit mindestens 1000 Menschen verließen Mechelen in Richtung Auschwitz. Unter ihnen waren auch 22 deutsche Jugendliche, die im Rahmen der Kindertransporte nach Belgien geflohen waren.

RESISTANCE Ruth und Betty machten sich wieder auf die Flucht. Zusammen mit weiteren Kindern des Waisenhauses, dem Direktor und seiner Frau, Alex und Elka Frank, flohen sie zunächst nach Südfrankreich, in das Chateau de La Hille im Dorf Ariege. In dieser provisorischen Herberge überlebten 100 Kinder. Es half ihnen die Schweizer Krankenschwester Rösli Nef, die ihnen auch zur Flucht in die Schweiz verhalf.

Auch Bronia überlebte die Schoa – mithilfe der Resistance in einer flämischen Familie. Sie gab dem Mädchen ein Zuhause, bis ihre Mutter acht Jahre später ihre drei Mädchen wieder in London vereinte. Heute leben Ruth und Betty in den USA, Bronia in England.

Frankfurt

30 Jahre Egalitärer Minjan: Das Modell hat sich bewährt

Die liberale Synagogengemeinschaft lud zu einem Festakt ins Gemeindezentrum

von Eugen El  09.12.2024

Frankfurt/Main

»Mein Herz blutet«

In Israel herrsche »Balagan«, Chaos, sagt Chaim Sharvit. Er steht hier denen zur Seite, die zum ersten Jahrestag des 7. Oktober dunkle Gedanken haben. Ein Besuch in Deutschlands größtem jüdischen Altenheim in Frankfurt

von Leticia Witte  14.10.2024

Gedenkveranstaltung

Steinmeier: Wer überlebt hat, trägt schwer an der Last

Fünf Jahre nach dem rechtsextremen Anschlag besucht Bundespräsident Steinmeier die Tatorte.

 09.10.2024

Frankfurt

Graumann und Grünbaum zur Doppelspitze in der Frankfurter Gemeinde gewählt

Den Vorstand vervollständigen Rachel Heuberger, Daniel Korn und Boris Milgram

von Christine Schmitt  09.10.2024

Berlin

»Ein bewegender Moment«

Am Donnerstag fand in Berlin die feierliche Ordination von zwei Rabbinerinnen sowie sechs Kantorinnen und Kantoren statt. Doch auch der monatelange Streit um die liberale Rabbinatsausbildung in Deutschland lag in der Luft

von Ralf Balke  09.09.2024 Aktualisiert

Neue Potsdamer Synagoge

Am Freitag wird der erste Gottesdienst gefeiert

Nach der feierlichen Eröffnung im Juli soll nun das religiöse Leben in der Synagoge in Potsdam langsam in Gang kommen. Am Wochenende sind erste Gottesdienste geplant

 06.09.2024

IKG

»Ein großer Zusammenhalt«

Yeshaya Brysgal zieht nach einem Jahr als Jugendleiter eine positive Bilanz und plant für die Zukunft

von Leo Grudenberg  04.09.2024

Keren Hayesod

»Das wärmt mir das Herz«

Der Gesandte Rafi Heumann über seinen Abschied von Berlin, deutsche Spielplätze und treue Spender

von Christine Schmitt  04.09.2024

Porträt der Woche

Sinn ernten

Caro Laila Nissen half nach dem 7. Oktober Bauern in Kibbuzim nahe Gaza

von Lorenz Hartwig  01.09.2024