In seinem irisierenden Miniaturen-Buch Dezember erzählt der Schriftsteller und Filmemacher Alexander Kluge von einem Gespräch zwischen dem Enkel des Rabbiners von Sborow und einem Freund im Dezember 1940 am Physikalischen Institut der Universität Cambridge: »Die Freunde hätten nach den Absichten ihrer kontinentalen Verfolger tot sein müssen. (…) Das nächtliche Gespräch, das Gefühl der Sicherheit zusammenzusein, konnte ihnen gar nicht lange genug dauern.«
Die beiden Physiker philosophieren über Gut und Böse und einen »Winterwillen« des Menschen zur Abwehr des Bösen. Sie kommen zu dem Schluss: »Man darf an das Böse nicht glauben, muss ihm mit Unglauben begegnen. (…) Es entsprach auch nicht ihrem Wunsch, sich zu fürchten; vielmehr wollten sie noch eine Weile zusammenbleiben.«
wunder Zusammenbleiben im Kreise unserer Familien und Freunde – das ist es, was unser Leben immer wieder hell macht. An Chanukka, dem Fest des Licht-Wunders und der Hoffnung, spüren wir das jedes Jahr besonders. Mag es noch so kalt sein und dunkel in dieser Zeit der kürzesten Tage: Wir halten dagegen, wollen uns nicht der Finsternis aussetzen, sondern wir entzünden Lichter – an unserer Chanukkia, aber auch in unseren Herzen; gegen die Finsternis der Dezembertage, aber auch gegen das Böse, das uns oft umgibt.
Denn die Botschaft von Chanukka ist eine Botschaft der Hoffnung in finsterer Zeit, eine Hoffnung, die wir (mit-)teilen wollen. Deshalb pflegen wir auch in München den Brauch, den Chabad in die Welt gebracht hat, und laden alle Münchnerinnen und Münchner zu uns auf den Jakobsplatz ein, wenn wir die Lichter an unserer großen Chanukkia vom Künstler Gershom von Schwarze öffentlich entzünden und dann gemeinsam feiern: Das Licht soll für alle strahlen.
Freude also und Hoffnung zu Chanukka 5775? Wie wohl den meisten von Ihnen geht es auch mir: Die Ereignisse des zurückliegenden Sommers haben in meinem Herzen eine tiefe Verstörung und Verletzung hinterlassen. Ich bin enttäuscht und traurig. Denn dieses Jahr, das nun zu Ende geht, hat uns mit ungeahnter Wucht klar gemacht: Jüdisches Leben in Deutschland, auf das wir zu Recht stolz sind und das wir in den Herzen unserer Mitmenschen verankert glaubten, ist nicht mehr sicher vor antisemitischer Aggression übelster Art. Rechte Extremisten, radikalisierte Muslime und nicht wenige aus der bürgerlichen Mitte fanden in einem gemeinsamen Feindbild zusammen: uns Juden.
salonfähig Für mich das Schlimmste: Die ungeheuerlichen Anfeindungen blieben nahezu unwidersprochen und ungeahndet. Rückhalt und Solidarität – wir fanden sie bei der politischen und gesellschaftlichen Elite. Doch unsere Mitbürger, unsere Mitmenschen – sie ließen uns im Stich. Waren wir für sie noch Mit-Menschen? Die bittere Erkenntnis aus diesem Sommer lautet: Judenfeindlichkeit und antizionistische Hetze sind wieder salonfähig geworden.
Und nun: Chanukka – das Fest der Freude und der Hoffnung? Ja, liebe Gemeindemitglieder und Freunde, gerade in dunklen Zeiten wie diesen brauchen wir die ermutigende, die helle Botschaft von Chanukka. Wir wollen uns nicht entmutigen lassen, sondern zusammenstehen wie die beiden Freunde in ihrem nächtlichen Gespräch. Wir wollen zusammenkommen zum Feiern – und zusammenhalten im Kampf für unsere freiheitlichen Werte, für unsere Demokratie. Der Zusammenhalt in unseren Familien, in unserer Gemeinde und in der großen jüdischen Gemeinschaft weltweit – das war immer unsere Stärke.
Auf ein Wunder dürfen wir nicht warten. Zuerst müssen wir handeln – so wie unsere Vorväter handelten damals bei der Wiedereinweihung des Tempels, als das Wunder ihnen Recht gab. Unsere Demokratie ist eine wehrhafte. Sie fordert die Verantwortlichen in Politik und Gesellschaft zum Handeln auf. Aber sie braucht auch das Engagement von allen Bürgern, von jeder und jedem Einzelnen. Gemeinsam müssen wir uns dem ideologischen Mob entgegenstellen, der unsere freiheitliche Zivilgesellschaft infrage stellt.
Vermächtnis »Wer die Demokratie beschädigt, der kriegt es mit mir zu tun«, hat der vor wenigen Tagen verstorbene Ralph Giordano an seinem 90. Geburtstag gesagt. Dieser kluge und feinsinnige Denker hat mir oft aus der Seele gesprochen – auch und gerade mit dieser höchst demokratischen »Drohung«, die uns ein Vermächtnis sein möge.
Chanukka gibt uns auch einen Anlass, das in den Mittelpunkt zu rücken, was uns Menschen über Religion und Herkunft hinweg verbindet: Wir alle wollen unsere Familien und Freunde wohlbehalten und sicher wissen. Wir alle sehnen uns nach Sicherheit, Geborgenheit und Frieden. Wir denken daher auch an all diejenigen, deren Leben in der Dunkelheit der Unmenschlichkeit zerbrochen wurde.
Ich will unsere Gedanken auf die vielen Hunderttausend Flüchtlinge lenken, die der Bürgerkrieg und die Schreckensherrschaft von IS und anderen islamistischen Terrorbanden aus ihrer Heimat vertrieben haben – auch zu uns nach München. Ich danke von ganzem Herzen allen Münchnerinnen und Münchnern, besonders denen aus unserer Gemeinde, die den Flüchtlingen in unserer Stadt auf unterschiedliche Weise gezeigt haben: Ihr seid nicht allein, wir wollen euch in eurer Not beistehen.
frieden Mit unseren Gedanken und Gebeten sind wir selbstverständlich auch bei unseren Brüdern und Schwestern in Israel, die seit Wochen unter einer Welle von todbringenden Attentaten und hinterhältigen Angriffen auf Zivilisten und Soldaten leiden. Wir stehen fest zu ihnen und wir sehnen uns mit ihnen nach Frieden. Aber wir wissen auch: Von alleine kommt er nicht. Wunder erfordern Handeln.
Wir erinnern uns an die 4587 Münchner Juden – Kinder, Frauen, Männer –, die dem nationalsozialistischen Terror zum Opfer fielen. Ihr Schicksal mahnt uns zu Wachsamkeit gegenüber Unmenschlichkeit: Nie wieder darf sich die Menschheit leisten, kaltherzig wegzusehen oder gar tatenlos zuzuschauen. Lassen Sie uns hinsehen, zusammenstehen und handeln! Denn nur dann dürfen und können wir auf ein Wunder hoffen.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen ein frohes Chanukka im Kreise Ihrer Lieben. Chag sameach!