Die sogenannte fünfte Jahreszeit kann in Köln keiner ignorieren. Doch inmitten eines nachmittäglichen Karnevalstreibens steht die Synagoge in der Roonstraße unbehelligt. Allein die zivile Wache vor dem Haupttor verschmilzt durch einen bunten Hut mit der »fünften Jahreszeit«.
Denn im großen Gemeindesaal geht es heute weniger um Tradition als vielmehr um die Zukunft der jungen Juden in Deutschland. Eingefunden haben sich rund 40 Gemeindemitglieder, mehr als die Hälfte davon gehören zwar nicht mehr der Zielgruppe der 22 bis 45-Jährigen an, aber das Ziel von Organisatorin Chana Bennett ist ohnehin, die Gemeinschaft zu stärken.
Podium Jugendleiter Alexander Bondarenko, Autorin Lena Gorelik, die Vorsitzende des Bundes jüdischer Studenten in Köln, Viktoria Blechman-Pomogajko, und Jonathan Walter vom Zentralrat der Juden in Deutschland beziehen Stellung.
Wozu, das bestimmt an diesem Tag Michael Rado, der schon 1952 nach Köln kam – was er sogleich in einen zeitlichen Kontext zu seinen Gästen setzt: »Da waren Sie alle nicht einmal eine schöne Idee!«
Jetzt aber, 60 Jahre später, sollen eben diese damals Ungeborenen die Rolle der Religion in ihrem Judentum definieren. »Ein unverzichtbarer Teil«, da ist man sich einig. Wie dieser aber aussehen soll, ist weniger klar. Viktoria Blechman-Pomogajko sähe den Gottesdienst gerne attraktiver.
Natürlich sei der Spagat »zwischen Tradition und Jugendliche anlocken« schwierig, aber viele trauten sich nicht in die Synagoge, weil ihnen die rituellen Abläufe nicht vertraut seien.
Basics Das bestätigt ein junger Zuschauer: Immer werde die Geschichte des Judentums erzählt, wie man aber richtig bete, erfahre man weder im Jugendzentrum noch im Religionsunterricht. Es fehlten einfach »die Basics«.
Auf die Idee aus dem Publikum, einen Teil des Samstagvormittags nach draußen zu verlegen, wendet sich Moderator Rado Jaron Engelmayer zu: »Wir müssen nur den Rabbiner fragen, ob er auf das Wetter Einfluss hat.«
Abläufe zu ändern, ist langwierig. Und die Liturgie stehe fest, gibt Jonathan Walter zu bedenken, »Gottesdienste attraktiver zu machen, ist deshalb eine schwierige Sache«. Sie seien die Grundlage von allem. »Aber man muss die Menschen da abholen, wo sie sind«, fordert Lena Gorelik, das gelte nicht nur für Jugendliche.
Akttraktivität Auch ein größerer Gegenwartsbezug religiöser Inhalte könne schon helfen, den Gottesdienst für viele attraktiver zu machen. Dem pflichtet auch ein älterer Herr bei. Er möchte, dass im Gottesdienst Männer und Frauen zusammensitzen, und außerdem müsse er »in der Landessprache angeboten werden«. Welche Sprache er meint, ist nicht schwer zu erraten. Am Nachbartisch wird der russische Dialog nur kurz durch das deutsche Wort »Fernstudium« unterbrochen.
Neu für viele im Saal ist der Begriff »Virtuelle Gottesdienste«. Der Gedanke, an Schabbat mit Kaffee und Kippa vor dem Computer zu hängen und den Rabbiner ins Vollformat zu klicken, scheint aber nicht verlockend. Habe man ein gebrochenes Bein, meint Blechman-Pomogajko, »wäre eine Live-Übertragung nicht schlecht«, aber die Atmosphäre käme wohl nicht im Krankenbett an.
Ohnehin, so Walter, sei das nur für Reformgemeinden interessant, und Podcasts mit jüdischen Inhalten gebe es ja ohnehin schon. Jugendleiter Bondarenko bezweifelt zudem die Nachfrage. Wahrscheinlich sei es jetzt gerade interessant, weil die Technik so weit sei.
Eckpunkte Was man aus seiner Religion mache sei natürlich Privatsache, so Jonathan Walter. Seien allerdings bestimmte Voraussetzungen nicht mehr erfüllt, »gibt es bestimmt einen Bereich, wo es aufhört, jüdisch zu sein«. Den wolle er hier aber nicht definieren.
»Brauchen wir Israel?« Moderator Rado blickt in die Runde. »Israel ist für die meisten Jugendlichen in Deutschland ein Zufluchtsort – eine Reserve«, antwortet Bondarenko. So wie er erzogen worden sei, hinter Israel zu stehen, so versuche er, dasselbe den Kindern im Jugendzentrum zu vermitteln. »Ich werde öfter mal nach der israelischen Politik gefragt«, erzählt Viktoria Blechman-Pomogajko.
»Wenn man jüdisch ist, sollte man sich zumindest ein bisschen damit auskennen, um das Bild von Israel erweitern zu können.« »Es ist nicht meine Heimat«, fügt Jonathan Walter hinzu. »Deutschland ist meine Heimat – hier bin ich aufgewachsen.« Natürlich bestehe eine besondere Verbindung zum jüdischen Staat, überinterpretieren sollte man diese aber nicht. Er wolle also mit seinen Kindern hier bleiben, fragt Rado nach. Jonathan Walter überlegt einen Moment, antwortet dann aber mit fester Stimme: »Ja.«
Judenfeindschaft Erfahrung mit judenfeindlichen Äußerungen habe er nur als Student in Heidelberg gemacht. Regelmäßig werde er allerdings beim Zentralrat mit der hauseigenen Sammlung antisemitischer Vorfälle konfrontiert.
»Müssen wir Antisemitismus bekämpfen?« Rado spricht ohne Umschweife. »Wer, wenn nicht wir?«, kontert Walter. »Wenn wir es nicht machen, macht es im Zweifelsfall keiner.« Und was für ein Bild ergäbe es, wenn sie sich nicht mehr um sich selbst kümmerten?
»Vorausgesetzt, der antisemitische Diskurs verschlimmert sich nicht, wird das jüdische Leben in Deutschland vielfältiger werden«, meint Schriftstellerin Gorelik, »verschiedene Strömungen werden sich im religiösen wie im kulturellen Sinne weiter verfächern.« Wichtig sei, die »Begeisterung fürs Ehrenamtliche« aufrechtzuerhalten, schließt Blechman-Pomogajko, »ich jedenfalls sehe dem Ganzen sehr positiv entgegen.«