Als die kleine Frau auf dem Stuhl Platz nimmt, verstummen die Gespräche der Schüler. Mit einem Schlag ist es ruhig in der Aula der Sophie-Scholl-Schule. »Ich freue mich, dass Sie gekommen sind, mich anzuhören«, sagt Margot Friedländer mit fester Stimme und schaut dabei auf die 250 Neunt- und Zehntklässler. Eine Stunde lang will die 92-Jährige aus ihrer Biografie lesen und möglichst viele Fragen der Teenager beantworten. Sie schlägt das Buch auf, fährt mit ihren Händen noch einmal über die bronzene Kette und beginnt.
Einsam habe sie sich gefühlt, als sich ihre Mutter und ihr Bruder einen Tag vor der geplanten Flucht der Gestapo stellten und sie allein zurückblieb. Ihre Mutter gab ihr ihre Handtasche und den Rat: »Versuche, dein Leben zu machen.« Diese Wörter, »kalt, unpersönlich und gar nicht nach meiner Mutter klingend«, waren für sie zunächst »ein Schock«. Friedländer habe gar nicht verstanden, was ihre Mutter damit sagen wollte. »Und warum sie mich zurückgelassen und nur meinen Bruder mitgenommen hat.«
Erst später verstand sie, dass ihre Mutter ihr damit das Vermächtnis aufgab zu überleben. In der Handtasche der Mutter findet die junge Margot eine Bernsteinkette, die sie auch an diesem Tag trägt, und ein Adressbuch, das sie während der Lesung ab und an hochhält.
Schuldgefühle 15 Monate lang schafft Friedländer es, versteckt zu leben. 16 Helfer hatte sie. Auf der Joachimstaler Straße wird sie schließlich von sogenannten Greifern festgenommen. »Ich bin jüdisch«, sagt sie zu den Männern. Das Verstecktsein hatte ein Ende. Von diesem Moment an habe sie sich wieder vereint mit den anderen Juden gefühlt. Denn bis dahin hatte sie sich als getrennt »vom Schicksal meines Volkes« empfunden und hätte Schuldgefühle gehabt, warum ausgerechnet sie am Leben ist.
Im Juni 1944 wird Friedländer ins Ghetto Theresienstadt deportiert, in das »Zwischenreich, nicht Leben, nicht Tod. Durch die staubigen Straßen schlichen Menschen, die keine mehr waren, mit Augen, die nichts mehr sahen«, sagt sie mit belegter Stimme. Die Schüler merken, dass es ihr an manchen Stellen immer noch schwer fällt, sie vorzulesen.
Es klingelt zur Pause – doch Margot Friedländer spricht unbeirrt weiter, und auch die Schüler sind gebannt und haben das Pausenzeichen ganz überhört. »Es kam nur auf eines an: den Tag zu überleben«, berichtet die Zeitzeugin. Seitdem ficht sie den inneren Kampf mit den Schuldgefühlen. »Es schmerzt mich, mit dem Schicksal meiner Familie zu leben. Und kostet mich viel Kraft.« Mit ihrem Mann Adolph Friedländer ist sie nach der Schoa in die USA gegangen. Er wollte nie wieder deutschen Boden betreten – im Gegensatz zu Margot Friedländer, die nach seinem Tod Berlin besuchte.
Seitdem weiß sie, was ihr wichtig ist: »Ich möchte mit Ihnen sprechen. Sie sind diejenigen, auf die es ankommt«, sagt sie den Schülern. »So etwas darf nie wieder geschehen, Sie sind dafür verantwortlich. Wir sind alle gleich.« Die Schüler sind sprachlos und applaudieren. »Wir laden jedes Jahr Zeitzeugen ein, da wir diese Begegnung wichtig finden«, sagt Schulleiter Klaus Brunswicker. Margot Friedländer war bereits dreimal zu Gast in der Sophie-Scholl-Schule, vergangenes Jahr kam die Musikerin Anita Lasker-Wallfisch.
fragen Während einige der Schüler noch das verarbeiten, was Margot Friedländer ihnen aus ihrem Leben erzählt hat, stellen andere schon die ersten Fragen: »Können Sie nachvollziehen, warum Ihre Mutter mit Ihrem Bruder ging?«, möchte eine Schülerin wissen. Mittlerweile schon, meint Friedländer. Ihr Bruder war damals 17 Jahre alt – »so alt wie ihr jetzt« –, und die Mutter wollte ihm helfen.
Sie hatte nicht gedacht, dass sie in Auschwitz auseinandergerissen werden würden. »Wie groß muss ihr Schmerz gewesen sein, dass sie nichts mehr für ihn tun konnte«, sagt die 92-Jährige. »Wie haben Sie es ausgehalten, sich zu verstecken?«, lautet die nächste Frage. Es sei kein Zuckerschlecken gewesen, aber sie hätte keine andere Wahl gehabt. Und immer begleitete sie die Angst, entdeckt zu werden. Mit zwei Helfern hatte sie nach der Schoa noch Kontakt, bei den anderen hat sie nicht erfahren, was aus ihnen geworden ist. »Es waren Menschen, die das Gefühl gehabt hatten, dass es nicht richtig war, was man uns antut. Denkt an die Bänke im Park, auf die Juden sich nicht setzen durften«, meint sie.
gefühle »Ich musste fast weinen«, sagt eine 16-jährige Schülerin. So sehr seien ihr diese Erlebnisse nahegegangen. Im Unterricht hatte sie die Nazi-Zeit bereits durchgenommen, aber »das hat mich berührt«. Obwohl sie sich zu Beginn nicht sicher gewesen sei, ob sie die 90 Minuten durchstehen würde und es vielleicht langweilig werden könnte. »Was geschah nach der Befreiung?«, fragt ein Schüler. Noch im Ghetto Theresienstadt heiratet Margot Friedländer ihren Mann, den sie aus Berlin kannte und dort wiedergetroffen hatte.
Seit 2010 lebt sie wieder in ihrer Geburtsstadt. »Für mich ist es richtig, hierherzukommen.« Die Schüler applaudieren wieder. »Was war mit Ihrem Vater?«, erkundigt sich ein Junge. Ihre Eltern hatten sich scheiden lassen, und er war nach Belgien emigriert, wurde dort aber später gefangen genommen.
»Wenn Sie die Möglichkeit hätten, etwas in Ihrer Vergangenheit zu ändern, was wäre das?«, lautet die letzte Frage. Friedländer denkt kurz nach. »Ich hätte gehofft, mit meinen Eltern und meinem Bruder zusammenzusein und ein normales Leben führen zu können. Ich bin durch meine Erlebnisse anders geworden. Für euch hoffe ich, dass ihr ein normales demokratisches Leben erleben dürft.«