Trendig ist die Gegend rund um die Brunnenstraße in Mitte schon seit Langem. Cafés, Galerien, Gemüseläden – ein kleiner Kiez mit viel Flair, wo die Bezirke Mitte, Prenzlauer Berg und Wedding aufeinandertreffen. Mehr Berlin geht nicht.
In diesem Frühjahr ist ein neuer Treffpunkt hinzugekommen. »KosherLife« steht seit April über dem Eingang zu Berlins einzigem koscheren Supermarkt in der Brunnenstraße. Früher war hier mal ein Schlecker-Drogeriemarkt, weithin sichtbar in blau-weißem Design. Die Farben sind geblieben, gleichwohl dezenter und doch irgendwie symbolisch.
Kasse An diesem Sonntagmittag schließt Kassierer Akiva Gernets den Laden auf, stellt die Kaffeemaschine an, schiebt schwungvoll eine Kiste mit Gewürzen beiseite und setzt sich in Ruhe hinter die Kasse. »Noch nicht viel los um diese Zeit«, erklärt Akiva lässig. »Wird sich noch ändern.«
Zur Laufkundschaft des Ladens gehören Nachbarn, Ausflügler und Touristen auf der Suche nach einem Laden, der auch sonntags geöffnet hat. Die Stammkunden hingegen kommen eher von nebenan, aus den Lauder-Einrichtungen wie Kindergarten und Jeschiwa, vor allem aber aus der Gemeinde Kahal Adass Jisroel.
Auch Akiva ist dort Gemeindemitglied. Vor zehn Jahren zog er mit Frau und Kind aus dem ukrainischen Dnepropetrowsk nach Deutschland. In seiner alten Heimat gab es zwar eine große jüdische Gemeinde, erzählt Akiva, doch jüdisch gelebt habe er nicht. In Deutschland entdeckte Akiva sein Judentum komplett neu. »Das typische Phänomen des Exils«, sagt er verschmitzt. »Anderes Land, neue Sprache, die Familie verstreut – da gibt die Religion natürlich Orientierung.«
platz Akiva sitzt gerne an der Kasse, berät die Kunden, hilft und erklärt. Ein Schwatz hier, ein Lächeln dort – Akiva ist immer zur Stelle, wenn ein Kunde Fragen hat. »Die alte Filiale in der Fehrbelliner Straße platzte aus allen Nähten. Hier können wir endlich alles bequem unterbringen.«
Auf gut 150 Quadratmetern Fläche bietet der Supermarkt reichlich Platz – für Weine, vegane Brotaufstriche, Fleisch, Käse, Joghurt und Hummus, alles streng getrennt nach milchig und fleischig. Die Milch kommt jede Woche frisch aus einer Hamburger Molkerei, die sich auf koschere Milch spezialisiert hat. In den Regalen stehen Oliven, Balsamessig, Bio-Tahina und Thunfisch neben Dattelsirup und Halva.
Die Palette zu erweitern, war höchste Zeit, meint der Verkäufer. Denn die Nachfrage unter der neo-orthodoxen Kundschaft wächst. »Wir machen keine Kundenakquise«, betont Akiva. »Die Leute kommen von allein.« Darunter sind auch viele Israelis. Manche betreten den Laden mit Stadtplan in der Hand und freuen sich über vertraute Produkte. Andere leben schon länger in Berlin und kommen extra hierher, wegen des Heimatgefühls.
Heimatgefühl Zum Beispiel Moria und Yariv aus Pankow. Sie hieven eine ganze Palette saure Gurken aufs Laufband und bringen Akiva damit zum Schmunzeln. »Nachschub?«, fragt der Kassierer verständnisvoll. Moria lacht. »Das muss jetzt wieder für einen Monat reichen«, sagt sie. »So herrlich salzige Gurken findet man sonst nirgends in Berlin.« Ihr Freund Yariv stellt klar: »Wir kommen nicht wegen des Koscherstempels, sondern wegen der ganzen israelischen Produkte.«
Auch Tomer fühlt sich hier wie zu Hause. Zielgerichtet steuert er die Reihe mit Crackern und Süßigkeiten an, so als würde er jeden Tag hier einkaufen. Dabei ist der junge Israeli zum ersten Mal zu Besuch in Berlin. Er findet die Stadt »cool« und »erstaunlich leicht«, trotz der »Schwere der Geschichte«. Da kommt der Becher Elite-Kaffee gerade recht, den Akiva ihm reicht. Ein Schluck Heimat in der Fremde, das tut gut, um anzukommen.
Akiva ist derweil damit beschäftigt, einen silbernen Kerzenleuchter vom obersten Regal zu bugsieren. »Wir kommen aus Charlottenburg«, erzählt Freddy, der Akiva neugierig über die Schulter schaut. Dabei gibt es in Charlottenburg doch auch koschere Geschäfte. »Ja, schon«, meint Freddy. »Aber die haben am Sonntag nicht geöffnet. Zudem ist das Angebot hier viel umfangreicher – und preiswert obendrein.«
pesto »Wie in einem israelischen Makolet«, staunen Michael und Jasmin. Das junge Ehepaar wohnt direkt in der Nachbarschaft. Eigentlich wollten sie nur Pesto im »Späti« kaufen. Doch der hatte geschlossen. Pesto gibt es hier auch, und das auch noch koscher. Michael entdeckt zudem Leckereien, die er aus Israel kennt. »Ich habe mal in Jerusalem studiert. Eine tolle Stadt«, schwärmt der Mittdreißiger. »Bu-re-kas«, liest er langsam auf Hebräisch. »Die probieren wir im September vor Ort«, sagt Michael. Da will er Jasmin Israel zeigen.
»Wann im September?«, mischt sich Akiva ein. »Zu Rosch Haschana?« Er bietet den Nachbarn Kaffee an und blättert dann flugs im Kalender. »Jüdisches Neujahr ist Ende September.« Doch da sind die beiden schon wieder zurück. »Dann kommen wir eben hierher«, meint Michael. »Jetzt wissen wir ja, wo wir Burekas finden.«
Reise-Nostalgie im KosherLife – Akiva gefällt das. Doch längst nicht alle Nachbarn sind so aufgeschlossen wie Michael und Jasmin. Eine Kundin erzählt, wie ihr jemand neulich beim Rausgehen eine Zigarette in den Kinderwagen schnippte. Seitdem hat sie ein schlechtes Gefühl. »Ohne den Laden hier könnten wir nicht so jüdisch leben, wie wir wollen«, sagt sie. Doch die Lage sei eben auch sehr exponiert.
grosseinkauf Vor der Kasse hat sich mittlerweile eine Traube gebildet. Ein junger Mann mit Basecap und Zizit schiebt einen voll beladenen Einkaufswagen vor sich her. »Das nenn’ ich Großeinkauf!«, kommentiert die Kundin hinter ihm. Der junge Mann lacht. »Last-Minute-Einkauf für die Brit Mila meines Sohnes. Morgen früh hier in der Gemeinde.« Er strahlt, als ihm alle auf die Schulter klopfen.
Vater und Tante, die daneben stehen, sind gerührt. »Ich komme extra aus Brasilien, meine Schwester Carla aus Frankfurt«, erzählt Gibirto Sonntag. Sein Großvater war einst Apotheker in Wilmersdorf: 1936 flüchtete er mit der Familie nach Südamerika. »Wir sind in Sao Paulo geboren. Mein Sohn hat ein Mädchen aus der Ukraine geheiratet. Zusammen leben sie jetzt in Berlin – der Stadt, in der mein Enkel geboren wurde.«
Akiva hat still zugehört. Auswandern, neu anfangen, das kennt er gut. »Jüdische Geschichten«, nickt er. Gibirto zuckt stumm mit den Schultern und beschreibt mit den Händen einen Kreis in der Luft. Einen Kreis mit Lücken.
Die Kundenschlange an der Kasse hat sich inzwischen aufgelöst. Es hat aufgehört zu regnen. Akiva hilft den Sonntags beim Einpacken. Dann macht er sich noch einen Kaffee und setzt sich wieder an die Kasse.