Baruch Chauskin ist Kantor und Sänger, und als solcher naturgemäß mit dem einen oder anderen Talent gesegnet. Hellsehen gehört eigentlich nicht dazu. Doch dieser Tage fällt es ihm nicht sonderlich schwer, eine Voraussage zu machen: »Dieses Purim wird stressiger als üblich.« Im Flur stapelt sich hinter einem blauen Paravent seine Ausrüstung. Keyboard, Verstärker, Boxen, alles fein säuberlich in Kartons verpackt.
Purim ist Feiertag, im wahrsten Sinne des Wortes. Trinken, Tanzen und jede Menge Musik. Die Frankfurter B’nai-B’rith-Loge hat Chauskin für Sonntag gebucht. Seine Ausrüstung muss er aber schon am Donnerstag, an Taanit Esther, aufbauen und anschließen. »Denn erst kommt Schabbat und dann ist auch schon Purim.«
Die ungewöhnliche Konstellation beider Feiertage bedeutet für Chauskins Familie eine organisatorische Herausforderung. »Die Vorbereitungen haben schon angefangen«, betont seine Frau Marina. Auf dem Tisch in der kleinen Wohnung im Frankfurter Ostend liegt wie zur Bestätigung schon die erste Hamantasche. Nutella-Füllung, eine moderne Variante.
Füllung Ob am Ende Mohn, Rosinen oder etwas ganz anderes in dem traditionellen Purimgebäck stecken werden, wird sich erst in den nächsten Tagen herausstellen. »Das geht allerdings recht schnell«, sagt Marina, »die eine macht den Teig, die andere die Füllung.« Unter all den Vorbereitungen scheinen die Hamantaschen noch die kleinsten Herausforderungen zu sein.
»Vieles werden wir wohl spontan entscheiden«, sagt Baruch. Vieles aber ist ihm auch schon vorgegeben. Chauskin trägt einen schwarzen Anzug, ein weißes Hemd, Kippa und Zizit. Seine religiösen Pflichten nimmt er ernst. Und an Purim gibt es davon jede Menge. Zusammen mit den privaten Aufgaben bilden sie ein Raster an Terminen, zwischen denen die Zeitfenster vergleichsweise eng sind – vor allem wenn die Vorstellungen von drei Familienmitgliedern darin koordiniert werden wollen.
»Im vergangenen Jahr haben wir fast fünf Stunden mit dem Einpacken der Mischloach Manot, der kleinen Geschenke, verbracht«, erinnert sich Marina. Mindestens zwei verschiedene Speisen gehören in jede Geschenksendung. Und die Chauskins versenden jedes Jahr mehr als vorgeschrieben. »Allein meine Tochter braucht 15«, stöhnt Baruch. Immerhin hat der Familienrat beschlossen, die Sache dieses Jahr etwas zu vereinfachen. Einen Teil der Päckchen hat man sich fertig liefern lassen – die vergleichsweise gute jüdische Infrastruktur in Frankfurt macht es möglich. »Einen Teil aber machen wir nach wie vor selbst. Und am Ende mischen wir«, sagt Marina.
Gottesdienst Mit dem Verpacken allein ist es selbstverständlich nicht getan. Irgendwie müssen die Geschenke schließlich auch zu ihrem Empfänger. »Einige nehme ich am Morgen mit zum Gottesdienst«, sagt Baruch. Der Rest wird seine Empfänger über andere Kanäle finden. Immerhin wohnen in und um den Wohnblock der Chauskins eine Menge Freunde und Bekannte. »Oft schickt man die Kinder«, erklärt Baruch. Das bedeutet zusätzliche Arbeit für Tochter Gabriela.
Die hat mit immerhin 14 Jahren inzwischen aber auch ihre ganz eigenen Pläne. Schon seit geraumer Zeit engagiert sie sich bei »Jewish Experience«, einem Zusammenschluss von jungen Menschen, die regelmäßig Veranstaltungen zum Thema Judentum anbieten. Dazu zählt in diesem Jahr auch ein eigenes Purimfest am Sonntag. »Sie wird beim Dekorieren helfen«, erklärt Marina nicht ohne Stolz. Doch wie ihr Vater steht Gabriela vor dem Problem, dass das Gros der Vorbereitungen bis zum Schabbat abgeschlossen sein muss.
Hektik »Es heißt oft, Purim sei vor allem ein Fest für die Kinder«, sagt Baruch, »aber alle feiern mit.« Er selbst wird am Samstag nach dem Abendgottesdienst mit den Männern in der Synagoge feiern. Am Sonntag geht es morgens zum Gottesdienst und nachmittags samt Frau zu B’nai B’rit. Irgendwo dazwischen werden sie versuchen Zeit für einen Besuch in der Seniorenresidenz im Budge-Heim zu finden. Und vielleicht stellen sie wie im vergangenen Jahr ihre Wohnung für die Lesung des Megillat Esther zur Verfügung – für diejenigen, die es nicht in die Synagoge schaffen. »Wenn manche Menschen nicht in die Synagoge kommen, kommt die Synagoge eben zu ihnen«, scherzt der Familienvater.
Elf Jahre sind inzwischen vergangenen, seitdem die Chauskins aus der lettischen Hauptstadt Riga nach Deutschland gekommen sind. Mittlerweile wissen beide sehr genau um die Bedeutung des Purim-Festes. Und bei aller Hektik wird es doch eine fröhliche Angelegenheit.
Für Kostüme allerdings haben sie sich noch nicht entschieden. »Ein lustiger Hut, eine Perücke, Schminke. Mal sehen«, sagt Marina. In der B’nai-B’rith-Loge werden sie gemeinsam feiern. »Erst trete ich auf und im Anschluss wird meine Tochter Musik auflegen. Ich bin ganz stolz«, sagt Baruch.
Und dann kommt bei dem Musiker noch einmal der Hellseher hervor: »Am Ende werde wir nicht mehr unterscheiden können zwischen ›Verflucht sei Haman‹ und ›Gelobt sei Mordechai‹«.