Studien zum Thema Antisemitismus gibt es viele, aber das Projekt, das die Frankfurter Sozialwissenschaftlerin Julia Bernstein in der vergangenen Woche in Köln vorstellte, ist in Deutschland bislang einzigartig: Ihre Studie ist die erste, die Jüdinnen und Juden fragte, wie sie Antisemitismus in Deutschland erfahren.
Mit allen Zahlen veröffentlicht wird Bernsteins Studie erst im kommenden Jahr, aber auf der Fachtagung »Antisemitismus heute«, die im Begegnungszentrum Porz der Synagogen-Gemeinde Köln stattfand, gewährte sie den gut 60 Teilnehmern erste Einblicke in die Ergebnisse ihrer Arbeit.
Bernstein, Professorin für Diskriminierung und Inklusion in der Einwanderungsgesellschaft an der Frankfurt University of Applied Sciences, hat 90 ausführliche Interviews mit Jüdinnen und Juden geführt, darüber hinaus mit Sozialarbeitern und Experten aus jüdischen Organisationen gesprochen. Die Studie zeigt daher den Antisemitismus aus jüdischer Perspektive. »Bislang«, sagt Bernstein, »kam noch niemand auf die Idee, diesen Ansatz zu verfolgen, dabei ist es für alle Minderheiten wichtig, wer bestimmt, was gefragt wird, und wer die Deutungshoheit hat.«
zoo Die Wahrscheinlichkeit, keinen Juden zu kennen, sei für die meisten Menschen, die in Deutschland leben, sehr hoch. »Wir haben es mit einer modellierten Andersartigkeit der Juden zu tun«, sagt die Sozialwissenschaftlerin. Das Bild, das die meisten von Juden haben, wurde nicht durch eigene Erfahrungen geprägt; dass Juden irgendwie anders sind, stehe für viele einfach fest. »Es gibt immer ein Wir und ein Ihr, und das geht hinein bis in die einfachsten Alltagsfragen. Mir haben Jüdinnen gesagt, dass sie gefragt wurden, wie sie denn ihre Kinder ins Bett bringen würden.«
Viele Juden kämen sich vor wie im Zoo, sagt Bernstein. Menschen, die mitbekämen, dass sie jüdisch sind, würden auf einmal auf sie zukommen und sich für die Nazizeit entschuldigen oder aber Absolution erwarten, weil sie ihren Nazi-Opa geliebt haben. Auf der anderen Seite würden sie für die israelische Politik in Haftung genommen werden, als seien sie Benjamin Netanjahu persönlich. Viele erste Begegnungen mit Juden seien für Nichtjuden sehr emotionale Ereignisse.
»Was so gut wie nie vorkommt, ist, dass mit Jüdinnen und Juden ganz normal umgegangen wird.« Sie würden weniger als Individuen mit ganz persönlichen Eigenschaften wahrgenommen werden, sondern vielmehr als Repräsentanten. »Man ist ein Mythos in der eigenen Person.«
ressource Für viele deutsche Juden ist das mehr als befremdlich. Sie sehen sich als ganz normale Deutsche jüdischen Glaubens, sprechen nur deutsch und erfahren immer wieder, dass es keine Normalität gibt. Erfahren sie dann noch offenen Antisemitismus, ist ihnen klar, dass sie nie zur deutschen Gesellschaft gehören werden, und sie ziehen sich zurück. »Die Ressource, die ihnen dann noch bleibt, um stabil zu sein, ist das Wissen: ›Wir haben überlebt.‹«
Andere, vor allem Juden, die aus der ehemaligen Sowjetunion zugewandert sind, wünschten sich oft, aus einem anderen Land zu kommen. »Es gibt ›coole Länder‹ und ›Ach-so-Länder‹.« Argentinien gilt als cool, Russland ist ein ›Ach-so-Land‹.« Viele würden sich wünschen, aus einem coolen Land zu kommen und nicht aus einem »Ach-so-Land«.
Es gebe Juden, sagt Bernstein, die niemandem sagen würden, dass sie Juden seien, und schon das Wort meiden. Andere gehen in die Offensive. »Als ich das erste Mal die Jüdische Allgemeine in einer Straßenbahn gelesen habe, habe ich gemerkt, dass es um mich herum still wurde«, erzählte eine Jüdin Julia Bernstein. »Seitdem lese ich die Jüdische Allgemeine immer im Bus und in der Bahn.«