Seniorenarbeit hat im Jüdischen Gemeinde- und Kulturzentrum Shalom Europa in Würzburg seit Langem einen hohen Stellenwert. »Wir haben eine Nachbarschaftshilfe, bieten Konversationskurse sowie einen Lotsen- und ehrenamtlichen Besuchsdienst an«, listet Erika Frank auf. Im vergangenen Jahr begann die Sozialarbeiterin außerdem, einen Hospizdienst aufzubauen. Zwei russischsprachige Frauen und ein Mann sind mittlerweile zu Hospizhelfern ausgebildet. Die Freiwilligen zu finden, sagt Frank, war gar nicht einfach.
Auch Marina Zismann reagierte anfangs skeptisch, als sie gefragt wurde, ob sie sich eine ehrenamtliche Tätigkeit als Hospizhelferin vorstellen könne. »Vier Jahre lang pflegte ich meine Mutter, die 2000 starb. Als ich vom neuen Hospizdienst hörte, kamen sofort Erinnerungen an diese für mich schwere Zeit hoch«, sagt die aus Russland stammende 55-Jährige. Andererseits wusste Zismann, dass betagte, schwer kranke Gemeindemitglieder, die nicht oder nur schlecht Deutsch sprechen, am Ende ihres Lebens dringend Hilfe benötigen von Menschen, denen sie sich in ihrer Muttersprache mitteilen können. So entschloss sie sich trotz ihrer Bedenken, sich zur Hospizhelferin ausbilden zu lassen.
Angst nehmen Alle Helfer, die sich im vergangenen und in diesem Jahr bei dem vom Zentralrat der Juden unterstützten Hospizprojekt engagieren, eint der Gedanke, dass Sterbehilfe für unheilbar Kranke strikt abzulehnen ist. Die Angst vorm Sterben zu nehmen, Schwerstkranke in ihren letzten Lebensmonaten liebevoll zu begleiten, dies gehört für Zismann zu den religiösen Pflichten eines jeden Juden.
Sechs schwerkranke Menschen werden von ihr und ihren beiden Mitstreitern von Shalom Europa derzeit zu Hause, im Krankenhaus oder im Pflegeheim betreut. Zwei weitere Gemeindemitglieder durchlaufen just bei den Würzburger Maltesern einen Ausbildungskurs zum Hospizhelfer. In Kürze beginnt ihr Praktikum.
Wenn keine Therapien mehr helfen, wenn allenfalls noch Schmerzen gelindert werden können, wird der Beistand von Menschen, die Zeit haben, zuzuhören und Trost zu spenden, zur seelischen Überlebensfrage. »Das spürte ich besonders intensiv bei der letzten Begegnung mit der von mir betreuten Frau«, sagt Martina Zismann.
Seit einem Jahr kümmert sie sich um eine 72-Jährige, die einst sehr aktiv im Gemeindezentrum war. »Sie sang im Chor und besuchte die Gottesdienste.« Vor drei Jahren erkrankte die Frau schwer, inzwischen lebt sie in einem Pflegeheim. Jetzt, wo der Tod nicht mehr fern ist, kommen viele Erinnerungen hoch. »Sie erzählt mir von den glücklichen Tagen ihrer Kindheit.«
Trost spenden Doch ihre Stimmungen schwanken stark. Oft hat Zismann in den vergangenen Monaten vergeblich versucht, die Seniorin zu trösten, sie aufzumuntern und zu erfreuen. Manches Mal wurde sie mit einem barschen: »Lassen Sie mich bloß in Ruhe!« empfangen. Marina Zismann hat gelernt damit umzugehen.
»Die Wünsche von sterbenden Menschen sind zu respektieren und zwar immer.« Einstellen müssten sich Hospizhelfer auch darauf, dass die Wegstrecke, die sie mit einem Sterbenden zurücklegen, wechselhaft ist und äußerst anstrengend sein kann. »Es kann zu Perioden großer Angst, dann wieder zu Aggressionen kommen.«
Wie das Wetter draußen ist, welchen Tag der Kalender zeigt, Neuigkeiten aus dem Shalom Europa – all dies interessiert den knapp 90 Jahre alten Senior, den Zismann außerdem betreut, seit einem halben Jahr nicht mehr. »Er spricht kaum noch«, sagt sie. Dabei war der Mann vor wenigen Jahren noch sehr rüstig, und auch, als seine Krankheit ihm das Leben bereits schwer zu machen begann, noch zu Scherzen aufgelegt. »Wenn ich jetzt zu ihm komme, geschieht oft nicht viel mehr, als dass ich seine Hand halte«, sagt Zismann. Doch genau das scheint dem alten Mann gutzu- tun. »Ich merke das an den Impulsen, die von seiner Hand ausgehen.
Verlust verkraften Schwere Krankheiten, permanente Schmerzen, der Verlust körperlicher Fähigkeiten, all das kann Zweifel wecken am Sinn des »Ganzen«, an Gott. Auch darauf ist Marina Zismann eingestellt. Ihre Aufgabe als Hospizhelferin sieht sie nicht zuletzt darin, Mut zu machen und das nach ihrer Überzeugung selbst in schwersten Leidensphasen in Menschen glimmende Hoffnungsfeuer wachzuhalten.
Nachdem die von ihr begleitete Seniorin durch Phasen intensiver Angst und Wut hindurchgegangen ist, scheint sie nun tatsächlich neue Hoffnung und neue Glaubenskraft gefunden zu haben. »Momentan bittet sie mich oft, ihr Psalmen vorzusingen.« Was Marina Zismann gern tut. Vielleicht zum letzten Mal.