Schüsse. Straßenbarrikaden. Tote. »Ich würde meinen Bruder lieber heute als morgen aus der Ukraine heraushaben«, sagt Alexej (Name von der Redaktion geändert) mit Nachdruck. Alexej lebt bereits seit 20 Jahren in Deutschland. Sein Bruder Dimitri und seine Schwägerin Irina aber wohnen noch in Charkov. Die 1,4-Millionen-Einwohner-Metropole ist nach Kiew die zweitgrößte Stadt der Ukraine und gilt mit ihren 42 Universitäten und Hochschulen als bedeutendstes Wissenschafts- und Bildungszentrum des Landes.
Aber Charkov ist auch die Stadt, in der Ende April dieses Jahres der jüdische Bürgermeister Gennadi Kernes aus dem Hinterhalt niedergeschossen wurde. Medizinisch behandelt wurde und wird er freilich nicht in seiner Heimat, sondern im israelischen Haifa.
eile geboten »Als sich Russland die Krim angeeignet hat, habe ich zum ersten Mal nicht mehr bedauert, die Ukraine verlassen zu haben«, sagt Alexej. Jetzt appelliert er an seine Verwandten, es ihm gleichzutun. »Ich denke, meine Familie sollte sich beeilen, herauszukommen!« Viele fragen sich, ob sie als Zivilisten in der Ukraine gefährdet sind. Und als Juden im Besonderen? Ist es Zeit, die Menschen in Sicherheit zu bringen?
»Ich war vor drei Wochen in Kooperation mit der Jewish Agency mit einer kleinen Delegation in der Ukraine, um mir ein Bild von der Situation zu machen«, sagt Jacob Snir, Gesandter des Keren Hayesod in Berlin. Seine Bilanz: »Ich habe nicht den Eindruck gewonnen, dass die jüdischen Gemeinden besonders gefährdet sind. Aber die Juden sind, wie viele andere Bürger auch, sehr besorgt – sowohl was die politische als auch was die ökonomische Lage angeht.« Das Interesse an den Programmen des Keren Hayesod sei deshalb derzeit größer als sonst. »Aber das ist ja selbstverständlich in der heutigen Situation«, meint Snir.
bedrohung Seine Organisation versuche momentan verstärkt, Olim nach Israel zu holen. Allerdings nicht wegen einer akuten Bedrohung, sondern weil der Keren Hayesod »grundsätzlich jedem verpflichtet ist, der Alija machen möchte«.
Dass »die Lage in der Ukraine noch immer sehr unübersichtlich« sei und »die Informationen zum Teil erheblich variieren«, konstatiert auch Zentralratspräsident Dieter Graumann. Das erschwere die konkrete Einschätzung. »Wir sind besorgt über die Situation und daher besonders achtsam. Wir stehen im stetigen Kontakt mit den Vertretern der jüdischen Gemeinschaft vor Ort. Aber wichtig ist uns vor allem auch der Austausch mit unseren Gemeindemitgliedern in Deutschland, die noch immer viele Verwandte und Freunde in der Region haben.«
Und was erzählt Alexejs Bruder? »Dimitri will uns immer beruhigen«, sagt der Mittvierziger, der in Frankfurt wohnt. Das tue sein Bruder vor allem, damit sich die Mutter der beiden, die ebenfalls in Deutschland lebt, keine Sorgen macht. Aber er spüre, dass Dimitri nicht alles sagen will. Und »im nächsten Satz berichtet er uns dann, dass vor allem die Lebensmittelkonserven aus den Läden verschwunden sind«, erzählt Alexej. Solche Hamsterkäufe seien nie ein gutes Zeichen, denn: »Offensichtlich gehen die Leute davon aus, dass es für eine Zeitlang nichts mehr geben könnte oder sie längere Zeit in ihren Wohnungen bleiben müssen.«
Beistand Doch während die Jüngeren maximal diese Sorge umtreibt, haben die älteren kriegstraumatisierten Menschen sogar Angst. Davon weiß die Claims Conference zu berichten, die sich um das Wohl der Holocaust-Überlebenden auch in materieller Hinsicht kümmert – beziehungsweise kümmern lässt. In der Ukraine stehen »unsere Partnerorganisationen American Jewish Joint Distribution Committee und Hesed B’nei Azriel den Holocaust-Überlebenden auch in diesen schweren Stunden« zur Seite, berichtet Cornelia Maimon Levi vom Claims-Büro Deutschland.
So versorgen sie beispielsweise den 82-jährigen Mihail mit Lebensmitteln und leisten ihm Gesellschaft. Denn der gebrechliche Mann traut sich seit den ersten Gewaltausbrüchen in Kiew nicht mehr, seine Ein-Zimmer-Wohnung zu verlassen. Nach Schätzungen der Claims Conference leben derzeit rund 24.400 jüdische Holocaust-Überlebende in der Ukraine.
»Es ist kein gutes Leben, das alte Menschen dort haben«, konstatiert Alexej unverblümt. »Man geht zwar früh in Rente, muss aber dennoch weiterarbeiten, bis man umfällt.«
Das ist auch einer der Gründe, warum Alexej seine Familie gern nach Deutschland holen möchte. Vor allem aber, weil »man überhaupt nicht weiß, was in der Ukraine als Nächstes kommt«. Putin agiere noch immer wie ein KGB-Mann. »Man darf nicht glauben, was er sagt. Er verfolgt nur seine eigenen Ziele«, meint Alexej und wirft dem russischen Präsidenten vor, der Ukraine den Weg in die Europäische Union verbauen zu wollen. Auch seine Verwandten aus St. Petersburg, die gerade zu Besuch sind, hätten keine guten Nachrichten mitgebracht: »Sie sagen, dass die ganze bisherige Entwicklung Russlands in Richtung Offenheit und Demokratie für die Katz ist.«
Ist die Lage tatsächlich so dramatisch? »Wir hören aufmerksam zu und versuchen, denjenigen zu helfen, die aus der Ukraine zu uns kommen wollen«, sagt Dieter Graumann. Der Zentralrat stehe auf Bundes- und Landesebene mit den Innenministerien in engem Kontakt: »Wir haben intensiv und engagiert über mögliche vereinfachte und beschleunigte Einreisemöglichkeiten gesprochen und schon sehr positive Signale bekommen.«
Swoboda-Partei Der Aufstieg der rechtsradikalen Swoboda-Partei und ihre Beteiligung an der derzeitigen ukrainischen Regierung »sollte aber nicht nur die jüdische Gemeinschaft, sondern alle in Deutschland und in der EU ganz genau hinschauen lassen«, betont Graumann. »Hier wünschte ich mir manchmal noch deutlichere Worte aus der Politik. Dass eine rassistische und menschenfeindliche Partei über so viel Einfluss verfügt, sollten wir nicht als selbstverständlich hinnehmen.« Worte, denen Alexej nur zustimmen kann.