Es darf als ein Beweis des Selbstbewusstseins und der Vitalität verstanden werden: Mit dem Motto »Aufbruch in die Moderne – Judentum heute« für die Jüdischen Kulturwochen vom 4. bis zum 17. November in Stuttgart lenkt die Israelitische Religionsgemeinschaft Württemberg (IRGW) den Blick bewusst auf Gegenwart und Zukunft. In der Gewissheit, im Gesellschafts- und Kulturleben der Stadt bestens verankert zu sein und die Unterstützung vieler Partner und Sponsoren zu genießen.
Denn die Kulturwochen finden bereits zum zehnten Mal statt. Dieses Jubiläum und hohe Besucherzahlen sind für Vorstandssprecherin Barbara Traub Beweis, »dass wir uns als lebendige Gemeinde wahrnehmen und auch als solche wahrgenommen werden wollen«. Die Integration der Zuwanderer, ihrer Kinder und Enkel sei gelungen und die 3100 Mitglieder starke Gemeinde längst in ganz Württemberg etabliert.
Konsolidierung Den »Aufbruch in die Moderne« will der ehemalige Landesrabbiner Joel Berger als Anknüpfung an die Vergangenheit und gleichzeitig Konsolidierung verstanden wissen. Einführen in das Thema wird bei der Eröffnung am 4. November im Rathaus der Publizist Michel Friedman. »Aus dem unermesslichen Schatz, aus dem wir immer aufs Neue schöpfen können«, wie Dieter Graumann, der Präsident des Zentralrats der Juden, in seinem Grußwort die jüdische Kultur rühmt, haben Joel Berger und seine Frau Noemi ein Programm mit 29 Veranstaltungen aus Literatur, Kulturgeschichte, Theater, Film, Kunst, Musik und Religion zusammengestellt.
Zu den Höhepunkten zählt Berger den Abend im Literaturhaus mit dem israelischen Autor David Grossman und seinem neuen Roman Aus der Zeit fallen, in dem er den Verlust seines Sohnes, der im Libanonkrieg gefallen war, verarbeitet. Den Roman Bebelplatz von Chaim Be’er wird die Übersetzerin Anne Birkenhauer vorstellen. Schmerzhaft drängt die Vergangenheit ins Bewusstsein bei einer Soiree mit Liedern aus Theresienstadt und der Lesung aus dem Roman Gerron von Charles Lewinsky.
Theatergeschichte Legendäre Namen der deutschen Theatergeschichte wie Otto Brahm, Max Reinhardt und Leopold Jessner, in der heutigen Zeit gefolgt von Peter Zadek, George Tabori und Luc Bondy, stehen im Mittelpunkt, wenn der Theaterwissenschaftler Hartwin Gromes über »Das moderne deutsche Regietheater und seine jüdischen Väter« spricht.
An den Dichter Stefan Zweig erinnert der Theaterabend »Novellen der Leidenschaft« mit Ernst Konarek. Sandra Kreisler singt jüdische Chansons. Jazz mit Daniel Kahn, Klassik mit dem Petersburger Gitarristen Alexander Feldman und das Konzert mit den Preisträgern des Karl-Adler-Musikwettbewerbs der IRGW belegen, dass jüdische Kultur immer auf der Höhe der Zeit ist. Dass China den bedrohten Juden eine Zuflucht in letzter Minute bot, ist weithin unbekannt. Umso bedeutender ist die Ausstellung »Jüdische Flüchtlinge und Shanghai«, die im Stuttgarter Rathaus zu sehen ist und ergänzt wird von dem Dokumentarfilm Zuflucht in Shanghai.
Gedenken Das Motto der Kulturwochen stehe, so Berger, bewusst im Gegensatz zum 9. November, an dem sich das Pogrom von 1938 zum 75. Mal jährt. Die IRGW lädt zu einer Gedenkstunde in die Synagoge ein.
Dass sich Antisemitismus heute anders äußert, will man in einer Diskussion im Rathaus herausarbeiten. »Antisemitismus kommt heute unterschwellig daher«, sagt Berger. Das zeige sich bei Themen wie der Beschneidung und der Politik in Israel. Doch bei der heutigen Bundespolitik dürfe man durchaus auf den Aufbruch in die Moderne bauen.