Berlin

»Auf Gemeinsamkeiten besinnen«

»Der Bedarf einer jüdischen Sekundarschule liegt auf der Hand«: Gemeindechef Gideon Joffe führt derzeit Gespräche mit dem Senat und den Fraktionen. Foto: Marco Limberg

Herr Joffe, wie fällt Ihre Bestandsaufnahme am Ende des alten und zu Beginn des neuen Jahres für die Gemeinde aus? Was konnten Sie erreichen, wo muss nachgebessert werden?
Trotz der Vielzahl der Erfolge liegen noch eine Menge Aufgaben vor uns, die wir womöglich bisher nur im Ansatz in Angriff genommen haben – Stichwort Sekundarschule und Erweiterung der Kindergärten. Außerdem bieten wir noch viel zu wenige Dienstleistungen für unsere Mitglieder an. Das erzeugt eine potenzielle Unzufriedenheit, die ich gut verstehen kann. Wenn zum Beispiel 100 Eltern ihre Kinder im Kindergarten anmelden wollen, wir aber nur 30 Plätze haben, gehen 70 Familien leer aus. Das wollen wir im neuen Jahr ändern.

Sie haben Erfolge genannt. An welche denken Sie dabei?
Wir haben im Rahmen des Möglichen viel für die Gemeindemitglieder getan. Stellvertretend seien hier die Vielzahl der Seniorenklubs, die zweite Kindertagesstätte auf dem Gelände der jüdischen Grundschule, die Einführung des bilingualen Unterrichts, die Gehaltssteigerung der Mitarbeiter und die Anpassung der Lehrergehälter an den Öffentlichen Dienst genannt – all das haben wir mit den Mitteln erreichen können, die uns zur Verfügung stehen.

Die Anpassung der Lehrergehälter war vor den Sommerferien eine zentrale Forderung bei Warnstreiks an beiden Schulen. Gibt es diesbezüglich neue Entwicklungen?
Ja und nein. Wir haben Lehrer, die werden besser bezahlt als Kollegen im Öffentlichen Dienst, und wir haben Lehrer, die werden schlechter bezahlt. Zugleich muss man sagen, dass die Heinz-Galinski-Schule zum Großteil aus Senatszuschüssen und Elterngebühren finanziert wird. Und die Soziodemografie unserer Elternschaft ist nun einmal im Unterschied zu anderen Berliner Privatschulen nicht so strukturiert, dass man hier hohe Summen verlangen kann. Das führt dazu, dass wir chronisch unterfinanziert sind, aber nicht so, dass sich die Gehälter der schlechter bezahlten Lehrer extrem von denen im Öffentlichen Dienst unterscheiden. Wir reden hier von Unterschieden zwischen drei und fünf Prozent – die werden wir versuchen zu beheben. Wir sind weiterhin die jüdische Schule Berlins mit den besten Gehältern für die Lehrer.

Am Ende des vergangenen Schuljahres waren Eltern verunsichert, einige haben ihre Kinder abgemeldet. Manche sprachen sogar von einem »Exodus«. Was war da los?
Wenn einzelne Familien ihre Kinder von der Heinz-Galinski-Schule abgemeldet haben, dann ist das für uns natürlich ein Verlust. Von einem Exodus kann jedoch keine Rede sein – die Zahlen sprechen eine ganz andere Sprache. Aktuell haben wir eine Rekordzahl an Schülern. So viele Neuanmeldungen wie in diesem Schuljahr hatten wir noch nie. Derzeit besuchen 350 Kinder die Grundschule, im Verlauf des Jahres werden noch mehr hinzukommen. Zudem war das Interesse an unserer Schule so groß, dass wir erstmals eine vierte erste Klasse eröffnen konnten. Wie so manches Mal in der Gemeinde wurde die konkrete Situation politisch aufgebauscht. Es gab in der Tat Differenzen mit dem bisherigen Leitungsteam – für dessen langjährige engagierte Arbeit ich mich trotzdem bedanke.

Sie haben »unüberbrückbare Differenzen« mit den Schulleiterinnen als Grund für deren Kündigung genannt. Welche waren das?
Unter anderem wurden die Ressourcen nicht optimal genutzt. Aber auch fehlende Transparenz seitens des Leitungsteams hat dazu beigetragen.

Inwiefern?
Zum Beispiel wurde nicht aufgeschlüsselt, warum wie viele Englisch- oder Hebräischlehrer für das bilinguale Konzept wirklich gebraucht wurden. Ich habe das ja alles befürwortet und den Leiterinnen freie Hand gelassen, aber auch ich muss Notwendigkeiten für die Mittelverwendung darlegen und rechtfertigen. Doch den Überblick hatte ich gar nicht. Auf wiederholte Nachfragen habe ich keine Antwort bekommen.

Einige Eltern warfen Ihnen im Umgang mit den beiden Lehrerinnen »mangelnde Wertschätzung« vor.
Ich bin sowohl auf die Lehrerinnen als auch auf die Eltern zugegangen – deren Fragen habe ich mich bei einem Krisengespräch in der Schule gestellt, und einer Schulleiterin habe ich in einem persönlichen Telefonat angeboten, für das letzte verbleibende Schuljahr vor der Rente an die Schule zurückzukommen. Aber sie hat das abgelehnt. Ich kann verstehen, dass die Eltern verunsichert und wütend waren; natürlich ist es eher befremdlich, wenn kurz vor den Zeugnissen zwei langjährigen Kolleginnen gekündigt wird. Denn so etwas geht immer auf Kosten der Kinder.

Wie wollen Sie das Vertrauen der Eltern zurückgewinnen?
Denen, die ihre Kinder abgemeldet haben, kann ich nur sagen, dass es mir unendlich leid tut, dass sie ihre Kinder von der Schule genommen haben. Denn die familiäre Atmosphäre, die Geborgenheit, die Jüdischkeit und das jüdische Profil sind in ganz Berlin einzigartig – das werden sie an keiner anderen Schule finden, auch an keiner jüdischen. Aber wenn man über die Zukunft der Schule seitens der Leitung so verunsichert wird, kann ich die eine oder andere Kurzschlussreaktion verstehen. Ich gebe zu bedenken: Der Konflikt war nicht nur schwarz und weiß, und die Fakten der Schule sprechen für sich.

Sie meinen das jüdische Profil und das bilinguale Konzept mit Hebräisch und Englisch?
Ja,vor allem aber das Engagement der Lehrer und Erzieher. Sie geben ihr Bestes, über das durchschnittliche Maß hinaus. Denn sie nehmen Anteil am Leben der Kinder. Dass die Kinder auf der Schule so glücklich sind, ist den Pädagogen zu verdanken. Ich meine aber auch das Unterrichtsniveau und die vermittelten fachlichen Inhalte – die Schüler werden bestens auf die Oberstufe vorbereitet. Auch leistet die jüdische Grundschule in puncto Integration ganze Arbeit: Wir haben viele Nichtmuttersprachler, wenn sie die Schule verlassen, sprechen sie perfekt Deutsch.

Wie läuft das neue Schuljahr?
Die Lage hat sich beruhigt, sodass wir die ambitionierten Prozesse an der Schule – Mehrsprachigkeit, Fachkompetenz, Förderunterricht – weiter ausbauen können. Derzeit leitet ein Viererteam die Schule; das trägt erheblich zur besseren Transparenz und Kommunikation bei und wird auch von den Kollegen sehr gut angenommen. Das ist wichtig, um zu einer vertrauensvollen Atmosphäre zurückzufinden.

Sind vier Schulleiter nicht etwas übertrieben?
Ganz im Gegenteil. Die Idee ist, dass man in der aktuellen Phase ein Gremium schafft, das den gelebten Demokratiegedanken sowohl nach innen als auch nach außen verankert. Jeder der Leiter vertritt eine Klassenstufe, jeder bringt andere Blickwinkel ein, jeder hat bestimmtes Know-how, alle sind Profis – das spiegelt auch die Vielfalt der Schule wider. Wenn bestimmte Entscheidungen getroffen werden, sind sie für Eltern und Kollegen so besser nachvollziehbar. Auch sind die Ressourcen nun viel strukturierter und frühere Defizite ausgeglichen. Trotz personeller Einsparungen werden nun insgesamt die Kapazitäten optimal genutzt.

Werfen wir einen Blick nach vorn: Wo drückt in der Gemeinde am meisten der Schuh?
Wir bekommen regelmäßig Beschwerden von Eltern, deren Kinder andere Lebensplanungen als den Weg über das Abitur haben – das zeigt, wir haben in der Gemeinde riesigen Bedarf an einer Sekundarschule. Das Gleiche gilt für einen weiteren Kindergarten. Hier wollen wir Synergieeffekte erzielen, indem wir die neue Kita auf dem Gelände des Seniorenzentrums eröffnen. Es ist ein generationenübergreifendes, familienfreundliches Konzept. Der Bauantrag, der jetzt gestellt wurde, sieht längerfristig Platz für rund 100 Kinder vor.

Wie konkret sind die Pläne für die Sekundarschule? Die Idee ist ja nicht neu.
Wir haben das Gelände und das Gebäude, aber nicht die Mittel, um beide einer sinnvollen Nutzung zuzuführen, da sind wir auf die Hilfe des Landes angewiesen. Das Ahawa-Gebäude auf dem Areal in der Auguststraße in Mitte wollen wir wieder mit Kinderlachen beleben – so wie früher. Dazu führen wir im Moment Gespräche mit dem Senat und allen Fraktionen. Wir setzen alles daran, um das Land Berlin von der Notwendigkeit zu überzeugen. Der Bedarf liegt auf der Hand – die Lage jüdischer Schüler an nichtjüdischen Schulen wird durch wachsenden Antisemitismus immer prekärer.

Wie aussichtsreich sind die Pläne?
Es ist für mich kaum vorstellbar, dass das Land Berlin uns seine Unterstützung verweigert. Auch diese Schule wird – wie alle anderen Schulen der Gemeinde – offen sein für den interreligiösen Austausch. Jetzt warten wir den Haushalt des Landes Berlin ab und sind eigentlich guter Dinge, dass das Land Berlin unserem Vorhaben aufgeschlossen gegenübersteht.

Was das Angebot von außerschulischem Hebräisch- und Religionsunterricht angeht, gibt es mittlerweile private Initiativen. Aber ist das nicht eigentlich Aufgabe der Gemeinde? Auch da ist der Bedarf offensichtlich groß.
Das stimmt. Und es ist definitiv Gemeindeaufgabe. Es gibt ein fertiges Konzept, mit Struktur, Zeit, Ort und Stundenaufteilung für verschiedene Altersgruppen der sechs- bis 13-Jährigen. Lesen, Sprechen, hebräische Lieder, Tora – das soll vermittelt werden, am liebsten am Sonntagvormittag in 30- bis 40-Minuten-Einheiten. Was jetzt noch fehlt, sind geeignete Lehrer, die zu uns als Einheitsgemeinde passen. Doch wir sind optimistisch, dass wir auch das hinbekommen.

Was die Stelle des orthodoxen Rabbiners in der Synagoge Joachimstaler Straße angeht – gibt es da inzwischen eine Einigung?
Rabbiner Yitshak Ehrenberg hat sich auch nach seinem Renteneintritt ehrenamtlich so stark engagiert, dass wir uns darauf geeinigt haben, noch eine Zeitlang zusammenzuarbeiten. An diesem Status Quo werden wir vorläufig nichts ändern, so lange jedenfalls, bis wir einen würdigen Nachfolger gefunden haben, den Rabbiner Ehrenberg angemessen an seine Aufgabe heranführen kann.

Die Gemeinde hat mit Sigmount Königsberg wieder einen Antisemitismusbeauftragten. Warum gerade jetzt?
Wir werden gehäuft von Gemeindemitgliedern über antisemitische Zwischenfälle informiert – die Erlebnisse im Alltag nehmen zu. Unser Antisemitismusbeauftragter wird dazu auch eigene Statistiken erstellen – bestimmte Aspekte werden in den offiziellen Statistiken oft gar nicht oder verfälscht erfasst. Außerdem vertrauen sich viele Gemeindemitglieder eher der Gemeinde an als offiziellen Stellen. Deshalb ist es uns wichtig, dass wir uns gemeindeintern aufstellen. Wir wollen damit zu einer Objektivierung der Diskussion beitragen.

Bislang war es dazu aus der Gemeinde eher still. Woran liegt das?
Ein Gemeindechef sollte sich um die Pflege jüdischen Lebens kümmern, Antisemitismus bekämpfen und sich für Solidarität mit Israel einsetzen. Die Jüdische Gemeinde zu Berlin ist aber derzeit in einer Phase, in der sie sich erst einmal um ihren Aufbau und daher weniger um deren Pflege kümmern kann. Darunter leiden die anderen Aufgabenbereiche.

Inwiefern? Die Gemeinde kann doch auf bestehende Strukturen zurückgreifen.
Das ganze Bildungsspektrum wie Kitas und Sekundarschule ist im Wachstum begriffen – die Nachfrage ist riesig. Das ist das eine. Außerdem müssen wir aber auch mehr Seniorenwohnungen bauen, denn das Seniorenzentrum ist zu klein. Zum Aufbau gehören zudem Strategien, um die Gemeindemitglieder wieder stärker an die Synagogen zu binden. Wir leiden darunter, dass das Interesse an der Religion innerhalb der Gemeinde abnimmt.

Wie könnte man das ändern?
Eine Wunschvorstellung ist zum Beispiel, die Religion nach Hause zu bringen. So könnten etwa ehrenamtliche Beter mit Unterstützung der Rabbiner regelmäßig solche Familien zu Hause besuchen, die eher selten in die Synagoge gehen. Es kann nie genug Menschen geben, die sich innerhalb der Gemeinde engagieren. Wir müssen uns umeinander kümmern – das macht eine der Stärken des jüdischen Gemeinwesens aus.

Wie wollen Sie die Gemeinde außerdem stärken? Nicht alle in der Gemeinde unterstützen Sie.
Es ist nie einfach, die verschiedenen Interessen in einer Einheitsgemeinde, zumal einer so vielgesichtigen wie der Berliner Gemeinde, unter einen Hut zu bringen. Und die Gemeinde stärken? Daran arbeiten wir. Womöglich müssen dafür Aktivitäten der Gemeinde noch stärker ausgebaut und gebündelt werden.

Gibt es denn nicht bereits genug Angebote?
Die gibt es, aber sie sind bislang in der Stadt zerstreut: Familienzentrum Zion, Jugendzentrum Olam, die Seniorenklubs, Veranstaltungssäle, Ansprechpartner der verschiedenen Abteilungen … Das ist ja auch gut so, schließlich sind wir eine große, wachsende Einheitsgemeinde. Schön wäre es aber auch, all das unter einem Dach unterzubringen, einen Mittelpunkt als Herz der Gemeinde zu haben. Wir wollen unsere Mitglieder zusammenbringen, Innovative ebenso wie Traditionalisten. Wir müssen uns in der Mitte treffen. Das Potenzial ist da, der Bedarf ebenso. Je mehr wir intern unsere Kräfte bündeln und uns auf unsere Gemeinsamkeiten besinnen, umso aktiver können wir nach außen hin auftreten – das wird gerade in politisch brisanten Zeiten wie diesen immer wichtiger.

Was möchten Sie dabei im kommenden Jahr stärker vermitteln?
Die größte Herausforderung ist es, der Bevölkerung die verschiedenen Aspekte und Definitionen von Antisemitismus näherzubringen. Darin sehe ich unsere zentrale Aufgabe. Da müssen wir aktiver auftreten. Auch ist mir der Dialog wichtig – und nichtjüdischen Berlinern jüdische Kultur zu vermitteln, etwa bei den Jüdischen Kulturtagen, die in diesem Jahr bereits zum 30. Mal stattfinden und fester Bestandteil des Berliner Kulturkalenders sind. Kultur ist ein Schlüssel für mehr Austausch, mehr Verständnis füreinander.

Das Gespräch führte Katharina Schmidt-Hirschfelder.

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